Predigtgottesdienst

In der Evangelischen Landeskirche in Württemberg wird seit der Reformation nicht wie in anderen lutherischen Landeskirchen die evangelische Messe, sondern Sonntag für Sonntag Predigtgottesdienst gefeiert.

Predigtgottesdienst

Von: Figel, Matthias

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Der Predigtgottesdienst als Spezifikum Württembergs
  2. 2: Der Prädikantengottesdienst als Ausgangspunkt
  3. 3: Die Reichsstädte als reformatorische Vorreiter
  4. 4: Das Vorbild des apostolischen Gottesdienstes
  5. 5: Von den Reichstädten zum Herzogtum Württemberg
  6. 6: Die reformatorische Ausrichtung des Predigtgottesdienstes
  7. 7: Der evangelische Predigtgottesdienst in Württemberg bis heute
  8. Anhang

1: Der Predigtgottesdienst als Spezifikum Württembergs

Predigtbild aus der Kirchengemeinde Amstetten, um 1630

Fotograf: Ernst Kirschmer

In der Evangelischen Landeskirche in Württemberg wird seit der Reformation nicht wie in anderen lutherischen Landeskirchen die evangelische Messe, sondern Sonntag für Sonntag Predigtgottesdienst gefeiert.

Wenn Lutheraner anderer Landeskirchen einen württembergischen Gottesdienst besuchen, sind sie häufig überrascht, den Prediger schon auf der Kanzel zu sehen, kaum dass sie sich auf der Kirchenbank eingerichtet haben. Irritiert vermissen sie das gewohnte Confiteor oder das gesungene Kyrie, Gloria und Halleluja. Umgekehrt werden ähnlich verstörende Erfahrungen gemacht: Württemberger, die sich etwa von Ulm über die Donaugrenze hinweg zum Besuch eines Gottesdienstes in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern begeben, wähnen sich nicht selten aus Versehen in eine katholische Messe geraten. Zu ausladend erscheint ihnen die Liturgie, zu fremd der Gottesdienst, zu ungewohnt der Wechselgesang, in dem sie – von Kind auf mit dem Predigtgottesdienst vertraut – schlichtweg nicht zu Hause sind.

2: Der Prädikantengottesdienst als Ausgangspunkt

Wie kommt es, dass sich in Württemberg – gegen das Übergewicht aller anderen lutherischen Landeskirchen – nicht die evangelische Messe, sondern der Predigtgottesdienst als sonntäglicher Hauptgottesdienst durchgesetzt und über die Jahrhunderte hinweg bis heute behauptet hat?

Die Antwort hierfür ist in den freien Reichsstädten zu suchen (und zu finden). Reichsstädte gab es im Umfeld des Herzogtums Württemberg zahlreich: Reutlingen, Heilbronn, Ulm, Esslingen – um nur die gewichtigsten zu nennen. Während in den Kirchen des Herzogtums Württemberg ausschließlich (mehrmals täglich) die lateinische Messe gelesen wurde, hatten die freien Reichsstädte, um ihrer Bevölkerung zusätzlich zumindest sonntags eine deutsche Predigt zu bieten, bereits im Spätmittelalter sogenannte „Prädikanten“ angestellt. Dies waren akademisch gebildete, theologisch versierte und rhetorisch begabte Männer, die sich – auf Grund von Stiftungen – voll und ganz auf die Predigt konzentrieren konnten. „Nach Imbiss“, am Sonntagnachmittag bestiegen sie die Kanzel und predigten verständlich in der Volkssprache. Vor und nach diesen Predigten wurden (bereits schon vor der Reformation!) einfache deutsche Gemeindelieder, sogenannte Leisen und Rufe gesungen.

3: Die Reichsstädte als reformatorische Vorreiter

Ein solcher Prädikantengottesdienst – bestehend aus Predigt, Allgemeinem Kirchengebet und Gemeindegesang – bot den idealen Anknüpfungspunkt für die reformatorische Auffassung von Gottesdienst, Predigt und Gemeinde. In der Predigt konnte das Wort Gottes verständlich ausgelegt werden. Im Gebet wurden die Anliegen der Gemeinde für alle hörbar vor Gott gebracht. Und in den volkssprachlichen Liedern kam endlich die Gemeinde zu Wort – den lateinischen Messen durfte sie ausschließlich passiv als Zuschauer und Zuhörer beiwohnen. Die Klarheit im Aufbau, die durchgängige Volkssprachlichkeit und die Möglichkeit der Einbindung der Gemeinde waren die ausschlaggebenden Gründe, weshalb alle reformatorisch gesinnten südwestdeutschen Reichsstädte bei ihrer Reformation in den späten 20er und frühen 30er Jahren des 16. Jahrhunderts ausnahmslos alle Messen abschafften und sich für den Prädikantengottesdienst als sonntäglichen Gemeindegottesdienst entschieden – zumal nahezu alle südwestdeutschen Reformatoren ursprünglich allesamt selbst eine spätmittelalterliche Prädikantenstelle innehatten.

4: Das Vorbild des apostolischen Gottesdienstes

Diese radikale und einschneidende Entscheidung begründeten die Reformatoren in ihren jeweiligen Reichsstädten stets mit dem reformatorischen „sola scriptura“ – allein die Heilige Schrift soll gelten. „Laßt das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.“ In diesem Zitat aus dem Kolosserbrief (Kol 3, 16) sahen die reichsstädtischen Reformatoren nicht nur die Einsetzungsworte für den Gottesdienst, auch nicht allein die theologische Begründung ihres Handelns, sondern vor allem den konkreten Ablauf des Gottesdienstes, wie er zur Zeit der Apostel gefeiert wurde und wie sie ihn jetzt restituieren wollten: Er sollte – gemäß Kol 3, 16 – ausschließlich aus Predigt und Gebet („Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit.“) und deutschen geistlichen Liedern bestehen („Mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.“). Im Bewusstsein der Unmittelbarkeit zur apostolischen Zeit waren sich die Reformatoren Alber (Reutlingen) und Frecht (Ulm), Blarer (Konstanz) und Bucer (Straßburg), Schnepf (Weinsberg) und Brenz (Schwäbisch Hall) unisono sicher: In ihren Reichsstädten und später im Herzogtum wurde zwischen 1526 und 1536 nichts anderes eingeführt, als was die erste Christenheit schon immer in ihren Gottesdiensten gefeiert hat.

5: Von den Reichstädten zum Herzogtum Württemberg

In den konkreten Fragen der reformatorischen Neugestaltung waren die südwestdeutschen Reichsstädte dem Herzogtum Württemberg um ein ganzes Jahrzehnt voraus. Mit ihren Gottesdienstordnungen hatten sie nicht nur tiefgreifende Entscheidungen in ihren Mauern getroffen, sondern für den gesamten Südwesten entscheidende Pflöcke eingerammt, die sich auch für die Reformation des Herzogtums Württemberg als richtungsweisend herausstellen sollten. Denn Herzog Ulrich gab bereits im Zuge seiner erfolgreichen Rückkehr nach Württemberg im Frühsommer 1534 den beiden Reformatoren Ambrosius Blarer und Erhard Schnepf die unmissverständliche Anweisung, sich bei der anstehenden Reformation des Herzogtums am Vorbild der umliegenden Reichsstädte zu orientieren. In der Württembergischen Kirchenordnung von 1536 wird infolgedessen – analog zu den reformatorischen Gottesdiensten in den benachbarten Reichsstädten – ein Predigtgottesdienst als zukünftiger Sonntagsgottesdienst präsentiert, bei dem die Predigt mit anschließendem Allgemeinem Fürbittengebet im Mittelpunkt steht, flankiert von deutschen Psalmen und geistlichen Liedern.

6: Die reformatorische Ausrichtung des Predigtgottesdienstes

Auf den ersten Blick ist dies der spätmittelalterliche, reichsstädtische Prädikantengottesdienst. Die Reformatoren hatten mit ihm den Gottesdienst übernommen, den sie selbst als ehemalige Prädikanten vorzubereiten und zu feiern gewohnt waren. Allerdings mit einigen Veränderungen, an denen die reformatorische Ausrichtung sichtbar wurde:

1. Die Gemeindelieder vor und nach der Predigt hingen nicht mehr von den lokalen Traditionen oder der Initiative des Predigers ab. Sie wurden zum festen Bestandteil des reformatorischen Predigtgottesdienstes. Auch konnten (und sollten!) – neben den bekannten deutschen geistlichen Liedern – deutsche Psalmen von der Gemeinde gesungen werden. Die Psalmen waren zuvor im Spätmittelalter Teil der lateinischen Messliturgie und darum ausschließlich dem Klerus vorbehalten gewesen.

2. Die Predigt wurde durch ihre evangelische Ausrichtung tiefgreifend verändert. Bei aller Ähnlichkeit: Zwischen den spätmittelalterlichen Predigten und den Predigten der Reformatoren liegen theologisch Welten. Geiler von Kaysersbergs oder Johann Ulrich Surgants Predigten hätte Martin Luther wohl als „Gesetz“ bezeichnet, nicht als „Evangelium“.

3. Das Allgemeine Kirchengebet nach der Predigt hatte durch die Reformation nicht mehr die spätmittelalterliche Form einer Exhortatio, einer Ermunterung zum Gebet, sondern war sprachlich klar und deutlich als Anrede in der zweiten Person singular an Gott formuliert. Daneben wurden die Fürbitten für die geistliche Obrigkeit, die Todsünder, die Pilger und die Seelen der Toten ersatzlos gestrichen.

7: Der evangelische Predigtgottesdienst in Württemberg bis heute

Damit wurde der spätmittelalterliche Prädikantengottesdienst (Gemeindelied – Predigt mit Allgemeinem Kirchengebet – Gemeindelied) zum liturgischen Vorbild und bleibenden Grundgerüst des sonntäglichen Gemeindegottesdienstes in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Und zwar mit nur wenigen Veränderungen über die Jahrhunderte hinweg bis ins letzte Jahrhundert. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde der schlichte württembergische Predigtgottesdienst in mehreren Schritten erweitert. Die entscheidenden Meilensteine hierfür waren die Kirchenbücher von 1931 und 1988 sowie das Gottesdienstbuch von 2004, worin der evangelische Predigtgottesdienst in Württemberg sukzessive um das Wochen- und Predigtlied, die Schriftlesung und den im Wechsel zwischen Liturg und Gemeinde gesprochenen Psalm mit abschließendem „Ehr sei dem Vater“ ergänzt wurde.

Aktualisiert am: 18.12.2014