Christliche Kunst in Südwestdeutschland

Christliche Kunst in Südwestdeutschland: Gotik

Von: Pelizaeus, Anette

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Baukunst
  2. 1.1: Die Baukunst der Bettelorden
  3. 1.2: Die Baukunst der Zisterzienser
  4. 1.3: Die großen Stadtkirchen
  5. 2: Skulptur
  6. 2.1: Skulpturengruppen im Bodenseeraum
  7. 2.2: Die Kunst der Parler
  8. 2.3: Der Ulmer Skulpturenschmuck
  9. 2.4: Nicolaus Gerhaert und Hans Seyfer
  10. 2.5: Peter von Koblenz und Jakob von Urach
  11. 3: Malerei
  12. 3.1: Buchmalerei
  13. 3.2: Tafelmalerei
  14. 3.3: Gewölbe- und Wandmalerei
  15. Anhang

1: Baukunst

1.1: Die Baukunst der Bettelorden

Esslingen, Dominikanerkirche, Grundriss

Aus: Anette Pelizaeus, Die Predigerkirche in Erfurt, Köln/Weimar/Wien 2004, Tafel 2,1.

Die gotische Baukunst in Württemberg setzt vielerorts zunächst nicht mit dem Bau von großen neuen Stadtkirchen ein, sondern mit neuen Kirchenbauten der Bettelorden, die erstmals eine neue Formensprache aufweisen. Die dreischiffigen kastenförmigen Kirchenbauten sind sehr langgestreckt und zeichnen sich durch eine schlichte und einheitliche Gliederung aus. Zwischen Langschiff und Chor befindet sich kein Querhaus, der Chor kommt ohne Umgang oder Radialkapellen aus, Langschiff und Chor sind von gleicher Höhe und mit einem durchgehenden Satteldach gedeckt. Auf prunkvolle Fassaden- und Portalgestaltungen sowie auf große Türme wird gänzlich verzichtet. Diese Bau- und Raumkonzeption dient der Vereinheitlichung von Chor und Langschiff und somit des gesamten Baukörpers.(1) Als Beispiel sei hier die Esslinger Dominikanerkirche St. Paul, aber auch die Esslinger Franziskanerkirche, erwähnt.(2) In deren Nachfolge, insbesondere hinsichtlich der Langgestrecktheit des Baukörpers, der Vereinheitlichung von Chor und Langhaus, aber auch in Bezug auf die Übernahme von Einzelformen, stehen vornehmlich die Cyriakuskirche in Bönnigheim, die Stadtkirchen in Leonberg, Markgröningen, Vaihingen/Enz und Villingen sowie St. Stephan in Konstanz.(3)

1.2: Die Baukunst der Zisterzienser

Salem, Münster, Grundriss

Aus: Oskar Hammer, Das Münster in Salem, , Arnsberg 1920 (Hochschulschrift), Abb. 12.

Sind die Grundrisse der Zisterzienserkirchen von Bebenhausen und Maulbronn noch von einfacher Gestalt und zeichnen sich durch einen einfachen Rechteckchor aus, so zeigen die späteren Bauten Chöre mit Kapellen und Umgängen, wobei die Kapellen bisweilen gestaffelt angeordnet wurden. Die Zisterzienserkirche in Salem weist einen Rechteckchor mit zweischiffigem Hallenumgang aus, der sich seinerseits aus der Verschmelzung von der aus der französischen Kathedralbaukunst stammenden Komposition des Chores mit Umgang und Kapellenkranz entwickelte. In Kaisheim zeigt sich dasselbe Bauprinzip, allein insofern sich von Salem unterscheidend, als nun hier der Chor nicht rechteckig, sondern polygonal gestaltet ist. Weitere Bauprinzipien der Zisterzienser, so beispielsweise die Auflösung der Wand, zeigt sich in den großen Maßwerkfenstern in Bebenhausen, Maulbronn und Heiligkreuztal, die Reduktion der Strebebögen im gänzlichen Verzicht in Salem, die Wertschätzung der Kunst der Wölbung, die vornehmlich in der Vorhalle und im Refektorium des Klosters in Bebenhausen deutlich vor Augen tritt.(4)

1.3: Die großen Stadtkirchen

Mit dem wirtschaftlichen Wachstum und dem Aufblühen der Städte ging der Wunsch nach der Existenz größerer Kirchen für die stets wachsende Gemeinde einher, die nicht von den Orden, Bischöfen oder Fürsten gebaut, sondern von der erstarkten Bürgerschaft selbst errichtet werden sollten. Vor diesem Hintergrund entstanden die ersten mächtigen Stadtkirchen wie beispielsweise die Marienkirche in Reutlingen oder St. Dionys in Esslingen, oder das später entstandene Ulmer Münster.(5)

Man war danach bestrebt, in die Höhe zu bauen und dabei gleichzeitig die massigen Mauern der romanischen Kirchen aufzulösen und erreichte dies dadurch, dass man die Wände durch größere Arkaden und größere Fenster auflöste. Die dementsprechend größeren und höheren Gewölbe konnten nicht mehr allein durch die Pfeiler im Inneren der Kirchen gestützt werden, sondern ihr Gewicht musste nun zusätzlich von Strebepfeilern und Strebebögen am Außenbau der Kirchen durch ein jeweils eigen abgestimmtes Strebesystem aufgefangen und nach unten abgeleitet werden. Diese gotischen Bauprinzipien, die sich zuerst in der französischen Kathedralarchitektur zeigen, finden sich in Württemberg nicht in der gleichen Größe wie in Frankreich, sind aber im kleineren doch an zahlreichen Kirchenbauten abzulesen, so beispielsweise an den Pfarrkirchen in Biberach, Saulgau und Ravensburg, an den gotischen Kirchen Ulms oder an der Pfarrkirche von Geislingen.(6) Das Bestreben nach Vergrößerung der Schiffe und Vereinheitlichung der Raumteile verdrängte bereits im 13. Jahrhundert die Baugestalt der Basilika zugunsten der Hallenkirche, die im 14. und 15. Jahrhundert zum bevorzugten Bautypus im gesamten deutschen Sprachraum, und somit auch in Württemberg, wurde. Als Beispiel einer frühen Hallenkirche sei die Frauenkirche in Esslingen genannt, nachfolgend entstanden der Chor der Heiligkreuzkirche in Schwäbisch Gmünd und das Hallenlanghaus der Herrenberger Stiftskirche sowie die Hallenlangschiffe von Schwäbisch Hall, Dinkelsbühl, Nördlingen oder Überlingen.(7) In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden zahllose Neu-, Um- und Erweiterungsbauten von Kirchen, nicht allein in den großen und größeren Städten des württembergischen Landes, sondern auch auf dem Land.(8) Vornehmlich die beiden Baumeister Peter von Koblenz und Aberlin Jörg leiteten die Baumaßnahmen und so entstanden die Kirchenbauten der Stiftskirche in Stuttgart, der Leonhards- und Hospitalkirche in Stuttgart, der Stadtkirchen in Cannstatt und Schorndorf sowie der Alexanderkirche in Marbach. Auch die Kirchen in Weil der Stadt, Markgröningen und Balingen sowie die Amanduskirche in Urach, die Michaelskirche in Leonberg, die Stadtkirche in Weilheim unter Teck, die Klosterkirche Blaubeuren und der Münsinger Chor, letztere alle unter der Federführung von Peter von Koblenz errichtet, sind in diesem Zusammenhang zu nennen.(9) 

2: Skulptur

2.1: Skulpturengruppen im Bodenseeraum

Meister von Konstanz, Christus-Johannes-Gruppe, Bode-Museum, Frankfurt /Main

Fotograf: Andreas Praefcke

Für das Kunstschaffen im Bodenseeraum war vornehmlich ein Künstler, nämlich Meister Heinrich von Konstanz, wesentlich. Er schuf um 1300 die Christus-Johannes-Gruppe aus dem Kloster St. Katharinenthal, die sich heute im Museum Mayer an der Bergh in Antwerpen befindet.(10) Aufgrund stilistischer Übereinstimmungen werden dem Meister und seiner Werkstatt auch die Christus-Johannes-Gruppe aus Sigmaringen, heute im Berliner Bodemuseum, die Figurengruppe der Heimsuchung aus St. Katharinental, heute Metropolitan Museum of Art in New York, die Muttergottesfigur in St. Katharinental und die Muttergottesfigur aus Seeschwaben, heute ebenfalls im Berliner Bodemuseum zugeschrieben.(11)

2.2: Die Kunst der Parler

Die Kunst der Parler bezeichnet die Kunst der Bildhauer aus der Familie der Parler. Der ersten „Parlergruppe“ sind beispielsweise die Skulpturen im Langschiff des Münsters in Schwäbisch Gmünd zuzuordnen. Ihr Figurenstil knüpft, wie die gesamte frühe Parlergruppe, an die Konstanzer Heinrichswerkstatt an und zeichnet sich durch faltenreiche Gewänder, hagere Gesichtszüge mit scharfkantigen Backenknochen und mandelförmig geschlitzten Augen aus.(12) Diese künstlerischen Merkmale finden sich nachfolgend auch in den Figuren der Esslinger Liebfrauenkirche, der Heimsuchungsgruppe aus Katharinenthal oder der Figurengruppe des Christus mit der Seele Mariens vom Felixenhof.(13) Der Stil der zweiten Parlergruppe, sich durch eine stärkere Durchprägung des Körpers unter den Gewändern auszeichnend, findet sich dann beispielsweise im Chor des Heilig-Kreuz-Münsters in Schwäbisch Gmünd oder in den Figuren der Ostteile des Ulmer Münsters. Als Vorbild dieses Stils wird einerseits auf das Petrusportal des Kölner Domes und andererseits die Kölner Malerei, und zwar insbesondere den dort tätigen Clarenmeister verwiesen, auch wenn dies in der Forschungsliteratur noch immer umstritten ist.(14) Dass in der Tat künstlerische Beziehungen zwischen Ulm und der Köln existierten, liegt erstens darin begründet, dass der Bildhauer Heinrich Parler von Gmünd aus Köln stammte, zweitens dessen Sohn Peter in Köln seine Ausbildung erwarb und dieser drittens mit einer Tochter eines Kölner Steinmetzen verheiratet gewesen war.(15) Die enge stilistische Verwandtschaft zwischen Ulm und Köln ist insbesondere anhand der um 1390 geschaffenen Laubwerkkonsole des sog. Reißnadelmeisters im Ulmer Münster im Vergleich zu der Laubwerkkonsole von St. Marien ad gradus beim Kölner Dom ablesbar, die sich heute im Kölner Schnütgenmuseum befindet.(16) Der Stil der zweiten Parlergruppe kulminiert in der Komposition des Ulmer Südwestportals mit Parallelen in Thann im Elsass, in der St. Lorenzkirche in Nürnberg und im Singertor des Wiener Stephansdomes.(17) 

2.3: Der Ulmer Skulpturenschmuck

Ulm, Münster. Westportal, Schmerzensmann. Kopie von Hans Multscher

Fotograf: Uli E. (gemeinfrei, Wikimedia Commons)

Da sich der Schwerpunkt der Parler wieder stärker nach Prag verlagerte und am Hof Karls IV. zu neuer Blüte aufstieg, schuf 1421 Meister Hartmann mit den vier Gestalten an den Freipfeilern der Westvorhalle des Ulmer Münsters sowie der Madonna und den 18 Heiligen oberhalb der drei Spitzbögen der genannten Vorhalle Figuren, die auf den „Weichen Stil“ zurückgehen und sich durch den s-förmigen Kurvenschwung der Figuren sowie ihr besonderes Lächeln auszeichnen. 1427 kam Bildhauer Hans Multscher aus Reichenhofen im Allgäu nach Ulm. Als dessen Hauptwerk ist der Schmerzensmann am Mittelpfeiler vom Westportal des Ulmer Münsters von 1429 anzusehen, eine Figur, die sich durch die realistischen Gesichtszüge, hervorgerufen durch die tiefliegenden Augenbrauen, die Stirn- und Nasenfalten sowie die schmalen gefurchten Wangen auszeichnet.(18) Dient die differenzierte Artikulierung der Physiognomie der Verdeutlichung der Leiden Jesu Christi, so wird dieser Eindruck durch die tiefen Grate in den Haar- und Bartlocken noch zusätzlich gesteigert. Durch den stark hervortretenden realistischen, ja expressiven Stil, steht diese Figur in deutlichem Gegensatz zu den Figuren des „Weichen Stils“ und stellte deshalb schon zur damaligen Zeit eine Besonderheit dar, weshalb sie dann auch den herausgehobenen Platz am Mittelpfeiler des Hauptportals erhielt.


Hans Multscher, Wurzacher Flügelaltar, Auferstehung Christi

Wikimedia Commons

Nachfolgend schuf Hans Multscher einen Altar für Heiligenkreuztal, von dem uns zwei Heilige in der Lorenzkapelle in Rottweil überkommen sind sowie 1456 den Sterzinger Hochaltar mit den Figuren einer Madonna und der Heiligen Barbara, Katharina, Ursula, Apollonia sowie der beiden heiligen Georg und Florian.(19) Multscher unterhielt in Ulm eine bedeutende Werkstatt, daran ablesbar, dass beispielsweise aus der Hand einer seiner Schüler die beiden Reliefs der Kreuztragung und der Auferstehung des Stuttgarter Aposteltors von 1445 stammen, die in Verbindung mit den beiden entsprechenden Tafeln des 1437 entstandenen Wurzacher Altars stehen, der seinerseits ebenfalls als Werkstattarbeit des Künstlers anzusehen ist.(20) Alle vier Reliefs zeichnen sich zunächst durch vergleichbare Gebärden der Figuren aus, zeigen aber zudem in den beiden Darstellungen der Kreuztragung Vergleichsmomente in der Form des Kreuzquerbalkens sowie in den Reliefs der Auferstehung motivische Übereinstimmungen in der Darstellung des Sarkophags, um hier nur die wesentlichen Punkte anzusprechen. Mit dem Spätwerk von Hans Multscher vergleichbar sind die Werke von Jörg Syrlin d.Ä., der um 1450 den Altar von Scharenstetten und 1458 die Skulpturen der Hl. Katharina, Maria und Agnes des Marienaltars von Oberstadion bei Ehingen schuf. Aus seiner Hand stammt ferner das Schnitzwerk des 1469 im Wesentlichen von Hans Schüchlin geschaffenen Hochaltars von Tiefenbronn.(21) Jörg Syrlin d.Ä. hatte 1468 auch einen Dreisitz als Muster für das Chorgestühl des Ulmer Münsters geschaffen, der dann schließlich auch den Auftrag für das Chorgestühl erhielt und dies zusammen mit seinen Gehilfen ausführte. Ebenso wie beim Chorgestühl der Herrenberger Stiftskirche ist die Händescheidung zwischen Meister und Gehilfe nicht einfach, obschon hinzuzufügen ist, dass die Situation beim Herrenberger Gestühl insofern anders liegt, als das Gestühl zwar von Hans Schickhardt signiert wurde, aber die wichtigsten Figuren Christoph von Urach zuzuschreiben sind.(22)

2.4: Nicolaus Gerhaert und Hans Seyfer

Nicolaus Gerhaert von Leyden gelangte nach 1460 ausgehend von den Niederlanden über Trier und Straßburg nach Schwaben und entfaltete dort sein künstlerisches Schaffen. Er schuf beispielsweise den Hochaltar von St. Georg in Nördlingen und die Nördlinger Kreuzigungsgruppe.(23) Die realistischen Züge in der Kunst Gerhaerts zeigen sich auch bei dem Meister Hans Seyfer aus Heilbronn, der den Heilbronner Hochaltar fertigte und Gerhaert gerade in der realistischen Darstellung der Physiognomie und der Gebärden der einzelnen Figuren deutlich übertrifft. Seyfers Hauptwerk im Stuttgarter Raum war die um 1501 geschaffene Kreuzigungsgruppe, die urspr. vor der Leonhardskirche in Stuttgart platziert gewesen war und sich heute in der Stuttgarter Hospitalkirche befindet.(24) Das Kruzifix zeigt Parallelen zum Kruzifix der Schwieberdinger Kreuzigungsgruppe, das in stilistischem Zusammenhang mit den Choraposteln der Esslinger Frauenkirche steht. Diese stehen mit den Aposteltorsos des Speyrer Ölbergs, die nach 1506 wiederum von Hans Seyfer geschaffen wurden, in Zusammenhang. Eines der letzten Werke des Seyfer-Kreises ist die Darstellung der Beweinung in Weilimdorf, das in deutlichem Zusammenhang zu den Erstlingswerken Seyfers, so der Grablegung in Worms, die Propheten des Stammbaums Jesse in der Schorndorfer Kapelle und in den Propheten des Wormser Domkreuzgangs steht.(25) 

2.5: Peter von Koblenz und Jakob von Urach

Das Meisterzeichen des Jakob von Urach aus Schorndorf ist dem des Peter von Koblenz sehr ähnlich, was darauf schließen lässt, dass beide Meister in enger Verbindung miteinander standen.(26) Unter Peter von Koblenz entstanden die Chorapostel von Blaubeuren und Tübingen, der Grabstein Ulrichs von Westerstetten und Sibyllas von Pappenheim in Drackenstein. Ebenfalls in diese Reihe gehören die Kanzeln von Weilheim bei Kirchheim sowie die von Urach, ferner die Sakramentshäuser von Hettingen bei Sigmaringen, Stetten bei Hechingen und Offenhausen und nicht zuletzt auch der ehemalige Lettner von Blaubeuren und die in dieser Zeit zahlreich auftretenden Halbbüsten von Gewölbekonsolen, so beispielsweise in Blaubeuren, Urach, Hailfingen bei Rottenburg, Frickenhausen bei Nürtingen und Schwieberdingen bei Ludwigsburg.(27)

Diesen folgen die Apostelkonsolen des Martin von Urach in der Hirsauer Marienkapelle, die Vorbild für die Prophetendarstellungen des Christoph von Urach in Gestalt von Halbbüsten am Uracher Taufstein sind. Während die Prophetendarstellungen am Uracher Taufstein und die Ehinger Veitsgruppe als gesicherte Werke des Christoph von Urach anzusehen sind, können Teile des Herrenberger Gestühls, zwei Prophetenhalbbüsten eines ehem. Altars aus Reutlingen sowie die beiden qualitätvollen Hochaltäre in der Stadtkirche zu Besigheim und in der Schlosskirche St. Jakobus in Winnenden ihm nicht als gesichert zugeschrieben werden.(28) 

3: Malerei

3.1: Buchmalerei

Weingartner Liederhandschrift. HB XIII 1, fol. 18r. Württembergische Landesbibliothek

Wikimedia Commons

Ein erstes Beispiel gotischer Malerei in Schwaben ist die zwischen 1330 und 1350 entstandene Konstanzer Armenbibel zu nennen, die heute im Rosengartenmuseum in Konstanz aufbewahrt wird.(29) Die Armenbibel weist insgesamt 34 Bildgruppen nicht kolorierter Federzeichnungen auf. Jedes illustrierte Blatt enthält Szenen aus dem Neuen Testament, die entsprechend der Tradition der Armenbibeln jeweils einzelnen Kreisen einbeschrieben sind. Letztere sind von Propheten in Gestalt von Halbbüsten umgeben, während in den äußeren Zwickeln alttestamentliche Szenen dargestellt sind.(30)

Vmtl. ebenfalls aus Konstanz stammt eine nach 1300 entstandene, 31 Dichter und 25 Illustrationen umfassende Liederhandschrift, die nach der Reformation ins Kloster Weingarten gelangte und sich heute in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart befindet.(31) Im Vergleich zur um 1300 entstandenen Manessischen Liederhandschrift ist die Weingartner Liederhandschrift von einfacherer Art. So fehlt beispielsweise bei Darstellungen von Figurenpaaren, die bereits in der Manessischen Liederhandschrift vorkommen und somit als Vorbild dienen, oftmals eine Person, so dass eine Figur als Einzelfigur präsentiert wird, deren Gebärde, Mimik und Gestik nun aber aus dem Sinnzusammenhang gestellt und demzufolge nicht mehr nachvollziehbar ist.

Im 15. Jahrhundert wurden insbesondere bei Adeligen die Stundenbücher beliebt, weil man diese entweder bei privaten Hausandachten oder unterwegs auf Reisen nutzen konnten. Die Stundenbücher enthielten ausgewählte Stellen aus den Evangelien in deutscher Übersetzung mit einem Heiligenkalender als Einleitung. Den Evangelien wurden die entsprechenden Autorenbilder vorangestellt, die ausgewählten Texte wurden mit Illustrationen, die Textseiten am Anfang mit Initialen und Zierrändern geschmückt.(32) Zwei Stundenbücher, einerseits gefertigt für Graf Eberhard im Bart und andererseits für Hermann von Sachsenheim, der den Grafen 1486 bei dessen Reise ins Heilige Land begleitete und eine der höchsten Beamtenstellen als Landhofmeister innehatte, seien an dieser Stelle genannt.(33) Aufgrund der Tatsache, dass Eberhard schon sehr früh starb, ist das Stundenbuch von Graf Eberhard im Bart unvollendet geblieben, zeigt aber gerade deswegen sehr deutlich die einzelnen Arbeitsschritte der Miniaturmaler, die zunächst die Randleisten in Pausen auftrugen und diese dann Schritt für Schritt ausmalten und vergoldeten.

3.2: Tafelmalerei

Die Malerei der Gotik bezieht sich in großem Maße auf die Tafelmalerei der Kirchenaltäre, die in dieser Epoche je nach Kirchenbau sehr hohe Dimensionen erreichen und dementsprechend auch als Hochaltäre gestaltet sein konnten. Als unter Kaiser Karl IV. Prag zu einem bedeutenden Zentrum der Kunst geworden war, hielten sich dort auch viele Meister aus dem deutschen Sprachraum auf. Umgekehrt hatte die dortige Kunst auch wiederum Einfluss auf die heimische Kunst, was daran abzulesen ist, dass die schwäbische Kunst nun böhmische Züge aufwies. In der Tafelmalerei zeichnete sich diese Strömung insofern ab, als beispielsweise an dem 1385 entstandene Altar von Mühlhausen, der sich heute in der Stuttgarter Staatsgalerie befindet, Darstellungen der böhmischen Heiligen Veit, Wenzel und Sigismund vorkommen. Die auf der Rückseite des Altars genannten Stifter des Altars, die Brüder Reinhard und Eberhard, sind dort gleichsam als „burger zu Prag“ erwähnt.(34)

Ende des 14. Jahrhundert gewinnt dann die Ulmer Tafelmalerei zunehmend an Bedeutung. Eines der frühen Tafelbilder der Ulmer Malerei ist die Darstellung des Gastmahls des Herodes aus dem ausgehenden 14. Jahrhundert, die vmtl. mit weiteren Werken zum ehemaligen Hochaltar des Ulmer Münsters gehörte.(35) Auch dieses Tafelgemälde zeigt böhmische Einflüsse sowohl in der Gestalt des Königs als auch in der Tatsache, dass das Zimmer durch eine oktogonale, hinter dem Eingangsbereich befindliche Säule in zwei Hälften geteilt ist. Die Gruppe um Herodes sitzt vor einem Vorhang, dessen Vorhangstange ohne Halterung in die seitlichen Wände mündet. Das Zimmer ist also horizontal durch die Säule und vertikal durch den Vorhang gegliedert. Unklar bleibt neben dieser Raumteilung auch die Gestalt der Zimmerdecke, denn über der Säule sind Gewölberippen angedeutet, die jedoch zäsurlos in eine Holzdecke münden, die ihrerseits die Gewölberippen nicht aufzunehmen in der Lage ist. Ferner bleibt unklar, worauf denn eigentlich die Figuren sitzen und ob sie wirklich als hinter dem Tisch sitzend oder stehend gedacht sind. Die mangelnde Fähigkeit in der räumlichen Darstellung ist ein Charakteristikum der gotischen Malerei, doch gleicht sich dieser Verlust durch die kompositorisch durchdachte Farbgebung wieder aus. Dabei stellt der bewusst eingesetzte Komplementärkontrast zwischen Grün und Rot in der Farbwahl für Säule und Decke einen Blickfang für den Betrachter dar und führt diesen sofort mitten in das Geschehen der Darstellung. Darüber hinaus zeichnet sich das Gemälde durch eine in Bezug auf die gesamte Farbkombination ausgerichtete Farbwahl der Bekleidung der einzelnen Figuren aus. Die beiden seitlich links angeordneten Höflinge nämlich tragen lange Gewänder in Blau und Rot, gefolgt vom goldenen Gewand der Salome, dessen Farbe im Gewand der Dienerin, die das Haupt des Johannes auf einem Teller von rechts her hereinträgt, ebenso wiederholt wird wie das blau und rote Gewand des Herodes, das dieselben Farben wie die Gewänder der beiden Höflinge aufweist.(36) Nicht nur die Farbwahl stellt eine Besonderheit des Gemäldes dar, sondern auch die äußerst detaillierte Wiedergabe des Musters im Vorhang, in der Holzdecke sowie den Kopfbedeckungen der einzelnen Figuren, woran die Freude in der Ausgestaltung der Einzelformen in möglichst exakter Wiedergabe erkennbar ist.

Schon bald darauf, nämlich 1437, entstand der Flügelaltar von Hans Multscher in Wurzach. Vom ursprünglichen Altar sind nur noch zwei Flügel mit je zwei Bildern auf der Innen- und Außenseite erhalten, also insgesamt acht Tafelbilder.(37) Sie zeigen je vier Szenen aus dem Marienleben und der Passion Christi. Die einzelnen Bilder folgen einer chronologischen Reihenfolge und sind von links nach rechts zu lesen. Zu den Passionsbildern gehören die Tafelbilder mit der Darstellung von Christus am Ölberg, Christus vor Pilatus, der Kreuztragung Christi und der Auferstehung, zum Marienzyklus zählen die Geburt Jesu, die Anbetung der Heiligen Drei Könige, die Aussendung des Heiligen Geistes und der Tod Mariens. Um eine möglichst naturgetreue Wiedergabe der menschlichen Gestalt zu erreichen, wird einerseits der Körper der einzelnen Figuren unter dem Gewand plastisch herausgearbeitet und modelliert, andererseits der Ausdruck der Figuren durch eine feine Herausarbeitung der einzelnen Gesichtszüge dargestellt. Die Physiognomien Multschers zeichnen sich durch eine oft deutliche Hervorprägung der Backenknochen, durch tiefliegende oder hochgezogenen Augenbrauen oder weit aufgerissene Augen aus, um auf diese Weise die menschlichen Züge der dargestellten Personen zu visualisieren. Das Bemühen um die realistische Wiedergabe der Personen der Dramaturgie, die den einzelnen Szenen zugrunde liegt, wird insbesondere in den Darstellungen der Kreuztragung und der Auferstehung evident. Bei der Kreuztragung steht das große monumentale Kreuz im Zentrum des Bildes, das diagonal von links unten nach rechts oben nahezu das gesamte Bild einnimmt und unter dem Jesus tief gebeugt schon fast zusammenzubrechen droht. Das Kreuz trennt die um Jesus sich versammelten Menschen in zwei Hälften, oben die Erwachsenen, die entweder neugierig abwartend oder andächtig neben der Gruppe der böse grinsenden oder Grimassen schneidenden Schärgen stehen, unten die Kinder, die teils mit Steinen auf Jesus werfen. Auffallend an der Farbgebung ist die Tatsache, dass die Gruppe der Erwachsenen rote, blaue und grüne Gewänder tragen, während die Kinder weißliche Kleidung tragen. In der Darstellung der Auferstehung Christus, der schon aus dem in einer Felsenhöhle gelegenen Grab entstiegen ist, sitzt thronend auf dem Sarkophagdeckel, während um das Grab die Wächter liegen und schlafen. Christus hingegen hat seine Rechte zum Segen erhoben, während er in der linken die hohe Kreuzesfahne als Siegeszeichen über den Tod hält.

Der um 1500 entstandene Pfullendorfer Flügelaltar (38) zeichnete sich ebenfalls durch die Kombination von Skulptur und Malerei aus. Im geschlossenem Zustand zeigte der Altar vier Passionsdarstellungen, die heute nahezu gänzlich zerstört sind, während im geöffneten Zustand acht Szenen aus dem Marienleben zusammen mit dem geschnitzten Mittelschrein zu sehen waren, wobei das Schnitzwerk heute gänzlich verschollen ist. Dem Meister des Pfullendorfer Altars gelang insbesondere durch die kompositorische Verkürzung und Diagonalstellung des Dargestellten zum Malhintergrund hin eine neue Raumtiefe, die deutlich über die bisherigen Raumdarstellungen hinausgeht. Die schon bei den Illustrationen des Wurzacher Altars zu beobachtende Dramaturgie wird durch die Akzentuierung der Mimen und Gebärden der einzelnen Figuren und Lebewesen noch deutlich gesteigert und gelangt auf diese Weise innerhalb der Ulmer Malerei zu einem neuen Höhepunkt. 


Ulm, Münster, Choraltar. Gesamtansicht

Fotograf: Joachim Köhler. Wikimedia Commons

Ein weiterer Meister der spätgotischen Ulmer Malerei war Martin Schaffner, der als eines seiner Hauptwerke 1521 die Tafelbilder des Choraltars im Ulmer Münster schuf.(39) Im Schrein und auf den Flügeln des Altars sind die Mitglieder der „heiligen Familie“ zu sehen. In der Mitte sitzen Maria mit dem Jesuskind und ihre Mutter Anna einander gegenüber. An den Fingerspitzen berühren sich die Generationen, die hier zugleich für den Alten und den Neuen Bund Gottes stehen.(40) Auch in diesem Altar ist die Verbindung zwischen Skulptur im Mittelschrein und der Tafelmalerei in den Flügeln als charakteristisches Merkmal der Ulmer Kunst sichtbar, wobei hinsichtlich der Malerei Schaffners auffällt, dass in seinen Darstellungen zum einen die Kunst der Perspektive zunehmend an Bedeutung gewinnt und zum anderen die detaillierte Wiedergabe von Einzelaspekten in der Darstellung der Figuren, seien es deren Physiognomien, Gebärden oder der vielfältige Faltenwurf ihrer stoffreichen Gewänder. 1526 wurde Martin Schaffner Stadtmaler von Ulm, der nicht nur mehrere Portraits, sondern als sein letztes Werk den Zyklus der Ulmer Rathausfresken schuf, die ihn auch als bedeutenden Architekturmaler auszeichneten.(41)

3.3: Gewölbe- und Wandmalerei

Hofen, Otilienkirche, Chorgewölbe

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Inventarisation, Inv.-Nr. 050073.1.007-00

Schon aus frühchristlicher Zeit stammen in Kuppeln und Apsiden von Kirchenbauten Darstellungen zur Verherrlichung Christi.(42) Er erscheint als thronender Weltenherrscher normalerweise in einer Mandorla, von einer Engelschar oder den Vierundzwanzig Ältesten begleitet und von den vier Evangelistensymbolen umgeben, wodurch sich dann die Maiestas Domini ergibt. Bisweilen wird Christus auch durch ein Kreuz oder das Agnus Dei symbolisiert, während sich in manchen Darstellungen auch mehrere Elemente dieser Darstellungen zu Bildprogrammen vereint finden. Während die Kirchenwände zwischen Rhein, Neckar und Enz meist mit eschatologischen Darstellungen oder einzelnen biblischen Geschichten versehen sind, bleiben die Bildprogramme in den Gewölben oftmals den Evangelisten vorbehalten, und zwar meist in Gestalt der Evangelistensymbole, mal mit oder ohne den Evangelisten, mal mit Propheten und Kirchenvätern oder im Rahmen eines eschatologischen Programms.(43) Erste bildliche Darstellungen der Evangelistensymbole entstanden noch zu Lebzeiten des Hieronymus, etwa im 384/389 geschaffenen Apsismosaik in der Kirche S. Prudenziana in Rom, in der Vierungskuppel des Mausoleums der Galla Placidia in Ravenna 425/430 oder in der Kirche Hosios David in Thessaloniki, wo im 6. Jahrhundert die vier diagonal um die Mandorla mit Christus gruppierten symbolischen Wesen der Evangelien erstmals Bücher halten und dementsprechend eindeutig den Evangelisten zugewiesen werden.(44) Diese Grundkonzeption der Anordnung der Evangelistensymbole um Christus in der Mandorla wird im Mittelalter zu einer wesentlichen Darstellungsweise der Himmelsvision.(45) In den Kirchen zwischen Rhein, Neckar und Enz sind die Evangelistensymbole in jeweils einer Gewölbekappe frei um einen Schlussstein herum, und somit zentriert im Gewölbe angeordnet. In Maulbronn, Daudenzell und Ötisheim reichen die Flügel sogar bis zu den Gewölberippen und Schildbögen und nehmen auf diese Weise die gesamte Gewölbekappe ein. In der Pfarrkirche in Hochhausen oder in St. Remigius in Häfnerhaslach sind die Evangelistensymbole jeweils einem rahmendem Kreis als Medaillon einbeschreiben, wodurch die Symbolhaftigkeit der Wesen noch umso deutlich herausgehoben ist. (46)In der Otilienkirche in Hofen erscheint im Scheitel des Tonnengewölbes im Chor Christus in der Mandorla, seine Rechte zum Segen erhoben und in seiner Linken das Buch haltend, während diagonal um die Mandorla herum die Evangelistensymbole als hybride Wesen mit menschlichen Körpern und Tierköpfen dargestellt sind.(47)  Diese Maiestas Domini wird im Osten des Tonnengewölbes, über der Mandorla, durch zwei Posaune blasende Engel zu einer Weltgerichtsdarstellung erweitert und im Westen durch je sechs Apostel ergänzt, angeführt von Paulus auf der Südseite und Petrus auf der Nordseite. In der evang. Pfarrkirche in Dühren hingegen gruppieren sich die Evangelistensymbole nicht um die Maiestas Domini, sondern um das Agnus Dei mit Siegesfahne im Schlussstein des Sterngewölbes, wodurch die Evangelistensymbole gegenüber Christus an Bedeutung gewinnen.(48) 


Besigheim, evangelische Stadtkirche, Chornordseite

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Inventarisation, Inv.-Nr. 05101.1.010-00

Wie bereits erwähnt, sind die Kirchenwände eher mit eschatologischen Darstellungen ausgestattet, zeigen biblische Geschichten des Alten und vornehmlich des Neuen Testaments mit Szenen aus dem Leben Jesu, der Apostel oder Illustrationen der Credo-Apostel(49), wobei hier als Beispiel die Wandmalereien im Chor der Stadtkirche in Besigheim, der Stadtkirche in Mosbach, die Pfarrkirche Hl. Kreuz in Loffenau oder im Chor der Johanniskirche in Brackenheim genannt seien.(50)

 

 

 

 

Aktualisiert am: 13.08.2019

Christliche Kunst in Südwestdeutschland: Reformationszeit und Barock

Von: Pelizaeus, Anette

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Die Einführung der Reformation in Württemberg und die Veränderungen in Gottesdienst und Liturgie
  2. 2: Die Emporenkirchen und ihre Ausstattung
  3. 2.1: Die Einrichtung der Kirchen entsprechend der neuen Lehre
  4. 2.2: Die Kirchenstuhlordnung
  5. 2.3: Der Kanzelaltar
  6. 3: Skulptur
  7. 3.1: Die Grabdenkmäler
  8. 4: Malerei
  9. 4.1: Buchmalerei
  10. 4.2: Tafelmalerei
  11. 4.3: Wandmalerei
  12. Anhang

1: Die Einführung der Reformation in Württemberg und die Veränderungen in Gottesdienst und Liturgie

Die Reformation wurde in Württemberg erst relativ spät, nämlich erst nach der 1534 erfolgten und mit Hilfe des hessischen Landgrafen Philipp I. durchgesetzten Rückkehr von Herzog Ulrich (reg. 1498-1519, 1534-1550) aus seiner Verbannung nach Württemberg durchgeführt.(1)

Durch den Einfluss des Landgrafen Philip von Hessen wurde dabei zunächst zwischen der schweizerischen und der norddeutschen Richtung vermittelt, so dass anfänglich beide Strömungen zum Tragen kamen, sich aber dann doch durch die bestimmende Gestalt des Reformators Johannes Brenz die lutherische Richtung durchsetzte. Gleichwohl bildeten sich in Württemberg Sonderformen des Gottesdienstes in Bezug auf die Abendmahlslehre (Ubiquitätslehre) und die nüchterne Gottesdienstgestaltung heraus, die ihrerseits an die nüchternen Prädikantengottesdienste der vorreformatorischen Zeit erinnerte. In der schlichten Form des württembergischen Gottesdienstes stand die Predigt im Vordergrund, ergänzt durch den katechetischen Teil, durch Lieder und Gebete. Die Predigt wurde meist von der Kanzel gehalten, so dass der Altar mehr und mehr gegenüber der Kanzel zurücktrat.(2) Gemäß der kleinen Kirchenordnung von 1536 sollte das Abendmahl sechsmal im Jahr und dazwischen je nach Anzahl der am Gottesdienst teilnehmenden Gemeindeglieder gehalten werden, wobei zudem ein Abendmahlsgottesdienst einen Predigtgottesdienst ersetzten sollte. In der großen Kirchenordnung von 1553 wurde demgegenüber ein einmal im Monat stattfindender Abendmahlsgottesdienst festgeschrieben.(3) Im 18. Jahrhundert schließlich wurden die liturgischen Bestandteile des württembergischen Gottesdienstes durch den Einfluss von aufklärerischen und pietistischen Strömungen noch weiter reduziert und das Abendmahl nicht mehr während des Gottesdienstes, sondern im Anschluss daran gehalten, wodurch der Altar noch weiter gegenüber der Kanzel zurücktrat. 

2: Die Emporenkirchen und ihre Ausstattung

2.1: Die Einrichtung der Kirchen entsprechend der neuen Lehre

Die Kirchen in Württemberg dienten seit Einführung der Reformation alle, seien es entweder überkommene Kirchen wie Pfarr-, Begräbnis- oder Schlosskirchen, Dom- oder Stiftskirchen, oder aber neu erbaute Sakralbauten, in erster Linie als Pfarrkirchen, so auch die noch genutzten Ordenskirchen, die in der Regel den alten Pfarrkirchen als Nebenkirchen zugeordnet wurden.(4)

Auch die Kirchen in Bildungs- und Sozialeinrichtungen wurden nun als Pfarrkirchen genutzt, wobei sie vornehmlich für einen bestimmten Personenkreis vorgesehen, aber auch Orte des öffentlichen Gottesdienstes waren.(5) Während die bereits bestehenden Kirchen für den reformatorischen Gottesdienst eingerichtet wurden, konzipierte man die neu zu errichtenden Kirchen schon ex ante im Sinne der neuen Lehre. Das Bauideal dieser Zeit war von dem Gedanken geleitet, dass sich die Gottesdienstbesucherinnen und Gottesdienstbesucher in möglichst befriedigender Hör- und Sichtbeziehung zu den Prinzipalstücken befinden und ausreichend Platz beim Zugang zum Altar haben sollten.(6)Diese raumkonzeptionellen Vorstellungen wurden in Württemberg erstmals in der von Aberlin Tretsch 1560-1562 unter Herzog Christoph von Württemberg angelegten Schlosskapelle des Alten Schlosses in Stuttgart umgesetzt.(7) Diese nämlich besteht aus einer Querkirche mit Chor, d.h. einem schmalen rechteckigen Saal mit einem fünfseitigen Erker an der äußeren Langseite, in welchem der Altar steht und daneben die Kanzel befindlich ist, so dass beide Prinzipalstücke von allen Sitzplätzen, auch von denen der Emporen, die sich auf der gegenüberliegenden Langseite und den beiden Schmalseiten des Kirchenraumes befinden, gut gesehen werden können.(8) 

2.2: Die Kirchenstuhlordnung

Während des 30-jährigen Krieges wurden in Württemberg viele Kirchen zerstört, wodurch hier der Kirchenbau zunächst ins Stocken geriet. Im Westfälischen Frieden von 1648 wurde dann aber der konfessionelle Besitzstand festgeschrieben und damit der kirchliche Wiederaufbau ermöglicht. Die stets steigende Bevölkerung erforderte nun das Vorhandensein von Kirchen mit einer größeren Anzahl an Sitzplätzen, was zum einen zur Vergrößerung der Kirchen und zum anderen zum Einbau von Emporen führte.(9) Dabei erfolgte die Platzzuweisung im Erdgeschoss und auf den Emporen entsprechend der gesellschaftlichen hierarchischen Ordnung. Der Anspruch auf einen Sitzplatz war also zugleich sozialer Anspruch und machte die soziale Differenzierung in der kirchlichen Gemeinde offenbar, die dazu führte, dass bereits seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Kirchenstuhlordnungen mit erworbenen oder reservierten Sitzplätzen in möglichst guter Sichtachse und Akustik zu den Prinzipalstücken von Kanzel und Altar eingeführt wurden, die auch strikt eingehalten wurden.(10)

Dementsprechend spiegelte die protestantische Gemeinde die Ständegesellschaft der damaligen Zeit wider, protestantische Kirche und weltliche Gemeinde waren in diesem Sinne identisch.(11) Umgekehrt eröffneten sich für die Kirchen durch den Verkauf von Kirchenstühlen zum Unterhalt der Kirchengebäude und zur Unterstützung der Armen neue Finanzquellen.(12)

2.3: Der Kanzelaltar

In Bezug auf den Kirchentypus blieb zunächst die überkommene Form des längsrechteckigen Kirchenschiffes mit meist polygonal geschlossenem Chor in meist gotischem Baustil wie beispielsweise die Stadtkirchen in Besigheim, Bietigheim, Bad Cannstatt, Leonberg, Herrenberg, Tübingen, Schwäbisch Gmünd oder Schwäbisch Hall erhalten, doch prägte zunehmend der aus Zentraleuropa auch auf Deutschland übergreifende Einfluss des Barock die Kirchenbauten und insbesondere deren Ausstattung, die im 18. Jahrhundert barocke Formen annahmen.(13)

In diesem Jahrhundert trifft man in Württemberg auf eine rege kirchliche Bautätigkeit, die von Cornelius Gurlitt als „protestantischer Barockstil“ im Sinne des lutherischen Kirchenbaus bezeichnet wurde.(14)Die Bezeichnung „Protestantischer Kirchenbau“ als Kontrapunkt zum katholischen Kirchenbau ist obschon der seit der Reformation in Württemberg sichtbaren baulichen Veränderungen erst seit dem 1. Viertel des 18. Jahrhunderts gebräuchlich.(15) Die innovative Kraft für den neuen Kirchenbau war Leonhard Christoph Sturm (1669-1729), Architekturtheoretiker und Baumeister, insofern er verschiedene Modelle für eine optimale Raumnutzung für den protestantischen Gottesdienst 1718 in seinem Buch “Vollständige Anweisung aller Arten von Kirchen wohl anzugeben“ entwickelte und dabei folgendes festhielt: „…in den Protestantischen Kirchen sihet man vornehmlich darauf, daß eine grosse Menge einen einigen Prediger wohl sehen und hören könne, daher man die Stellen unmöglich auf der erden recht gewinnen kann, weil bey gar grossen Kirchen, die weit von der Cantzel zu stehen kommen, nichts hören können, sondern man muß sie übereinander zu gewinnen suchen.“(16) 

Um dem Anspruch auf eine gute Sicht zur Kanzel und zum Altar zu genügen, ging man also dazu über, Altar und Kanzel axial übereinander anzuordnen und zur Gestalt eines Kanzelaltars zu vereinen.(17) Einen solchen zeigt zum Beispiel die Pfarrkirche in Gerstetten, die sogar noch beidseitig des Altares zwei rundbogenförmige Öffnungen für den Umgang der Kommunikanten um den Altar aufweist.(18) Im Hohenlohischen findet man zudem als Ausstattungsmerkmal die sogenannte „Markgräfler Wand“, die sich dadurch auszeichnet, dass hier nicht nur Altar und Kanzel, sondern Altar, Kanzel und Orgel übereinander angeordnet sind, so beispielsweise in Amlishagen (Neubau der Katharinenkirche 1761-1763) und Kirchensall (um 1770).(19)

Der Grundriss der barocken Katharinenkirche in Amlishagen(20) setzt sich aus einer längsrechteckigen Saalkirche mit östlich sich anschließendem kurzem Chorrechteck zusammen. Die Saalkirche, der eine kleine Vorhalle vorgelagert ist, weist auf der Nord- und Südseite eine Empore auf, während im Westen über der Vorhalle die Fürstenloge befindlich ist. Sie liegt genau gegenüber der Markgräfler Wand im Chor, die sich zudem dadurch auszeichnet, dass beidseitig des Altares auch Tauf- und Opferstock angeordnet sind. Auf diese Weise können alle Prinzipalstücke mit einem Blick in Augenschein genommen werden, die nicht nur von der fürstlichen Loge aus, sondern auch von den Plätzen des Erdgeschosses sehr gut gesehen werden können. Die Markgräfler Wand und die Emporenbrüstung sind in denselben Pastelltönen gehalten, wodurch der einheitliche Charakter des barocken Baustils durch die Farbgebung noch zusätzlich betont wird. Der Außenbau fasziniert durch die Westfassade, die nach dem Vorbild der römischen Barockfassaden im Erdgeschoss drei- und im Obergeschoss einteilig ist, wobei seitliche Voluten den Übergang von Dreiteiligkeit zur Einteiligkeit bewerkstelligen.

Die Bauaktivitäten standen unter dem Zeichen protestantischer Bau- und Gestaltungsfreude, in der Kirchenbau und Gottesdienst integrierende Faktoren des gesellschaftlichen Lebens waren, und zwar in einer von Gott gesegneten Glaubensgemeinschaft, die jedoch auch im 18. Jahrhundert noch nach gesellschaftlichem Stand und Geschlecht geordnet war.(21) So weist zum Beispiel die evangelische Kirche St. Pantaleon in Asselfingen vier erhaltene Reihen an nummerierten, mit Türchen verschlossenen Kirchstühlen aus der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts auf, die mit geschweiften Wangen versehen sind und eine einprägsame Vorstellung von der Kirchstuhlordnung des 18. Jahrhunderts geben.(22)

3: Skulptur

3.1: Die Grabdenkmäler

Tübingen, Stiftskirche, Chor. Grabplatte Herzog Christoph von Württemberg

Fotograf: Mogadir. CC-BY-SA-3.0

Im Gegensatz zu den südlich und östlich in Schwaben gelegenen katholischen Gebieten war man im Norden mehrheitlich evangelisch, weshalb die Kirchen hier nicht mehr mit Heiligenfiguren, sondern insbesondere mit figürlichem Schmuck für die Grabdenkmäler ausgestattet wurden.(23) So schuf beispielsweise Joseph Schmid von Urach Grabdenkmäler für die Kirchen in Stöckenburg bei Hall, in Berneck bei Nagold und für den Chor der Stiftskirche in Tübingen. Auch Leonhard Baumhauer, der sich auch als Erbauer der Brunnen in Leonberg, Reutlingen und Munderkingen einen Namen machte, ist als Bildhauer zahlreicher Grabdenkmäler zu nennen, unter denen das 1563 für den Haushofmeister Hans Herter von Herteneck entstandene Grabmal in der Stuttgarter Stiftskirche besonders erwähnenswert ist. In der Stadtkirche von Kirchheim/Teck befinden sich die Grabmäler für Ulrich Schilling von Cannstatt von 1552, für Hanns von Remchingen von 1576, für Anna Sept von Sulzberg mit deren Söhnen und Töchtern von 1586 sowie für Johannes Sigmund von Remchingen von 1604. In Salach bei Göppingen treten die Grabdenkmäler für Albrecht und Konrad von Rechberg hervor, wobei ersteres ein Werk von Michael Schaller ist.


Stuttgart, Stiftkirche. Chornordwand. Standbilder der Grafen von Württemberg

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, DA Stuttgart, unverzeichnet

Sem Schlör, vornehmlich als Bildhauer der Grabdenkmäler in Hall und Umgebung greifbar, war auch im Neckar- und Remsgebiet, wie etwa in Oberstenfeld, Geisingen, Oppenweiler oder Straßberg tätig, arbeitete darüber hinaus aber auch im Auftrag der württembergischen Herzöge, wie einerseits die Grabdenkmäler in der Tübinger Stiftskirche(24) und andererseits die ehemalige Ausstattung der Kapelle im Alten Schloss in Stuttgart, die ihrerseits später wieder verändert wurde, zeigen. 1576 erhielt er zudem den Auftrag für die Schaffung von 11 Grafenstandbildern für die Chornordwand der Stuttgarter Stiftskirche, die aufgrund ihrer Einheitlichkeit im Stil des Manierismus von besonderer Bedeutung sind.(25)

4: Malerei

4.1: Buchmalerei

In der protestantischen Buchmalerei der Frühen Neuzeit sind es vornehmlich die lutherischen Bibeln, die mit Illustrationen aus den biblischen Geschichten des Alten und Neuen Testaments versehen werden, um die Botschaft der Heiligen Schrift auch visuell vor Augen zu führen und damit möglichst vielen Menschen nahe zu bringen, zumal in dieser Zeit nicht alle Menschen des Schreibens und des Lesens mächtig waren. Um die Bibeln nicht unnötig aufzublähen, fasste man eine biblische Geschichte in einer Illustration zusammen. Dementsprechend umfasst ein Bild mehrere Szenen, die auf der Bildfläche an unterschiedlichen Orten positioniert sind, woraus sich ergibt, dass die gleichen Personen in einer Darstellung mehrfach vorkommen können. Ziel dieser Illustrationen ist die bildliche Verkündigung des geschriebenen Wortes, wobei Luther nicht selten in den ersten Bibeln von 1534 und 1545 kommentierte, an welchen Stellen eine Illustration anzubringen sei. Die Illustrationen bestehen dabei aus Holzschnitten, die anschließend mit der Hand koloriert wurden, wodurch jedes einzelne Bibelexemplar zu einem Unikat wurde. Als Beispiel sei hier die von Sigmund Feyerabend, Georg Rab und Hans Weygand Erben 1564 in Frankfurt gedruckte Bibel Martin Luthers angeführt, die im Auftrag des Herzogs Christoph von Württemberg (1550-1668) in einer Auflage von 200 Exemplaren ausgeführt wurde und dementsprechend als die erste für Württemberg gedruckte Lutherbibel anzusehen ist.(26) Die Bibel besteht aus zwei Bänden und umfasst insgesamt 134 handkolorierte Illustrationen. Das Alte Testament enthält das Widmungsblatt mit Portrait und Wappen des Herzogs, 2 Titelblätter und insgesamt 92 Textabbildungen, wobei sich das Buch der Propheten einschließlich der Apokryphen mit eigenem Titelblatt am Anfang von Band 2 befindet. Band 1 ist demzufolge allein dem Alten Testament gewidmet und enthält 66 Textabbildungen, während sich die übrigen 26 Abbildungen auf die Propheten und Apokryphen verteilen. Das Neue Testament, das ebenfalls mit eigenem Titelblatt ausgestattet ist, umfasst nun erstmalig 38 Illustrationen und damit fünf bzw. sechs Abbildungen mehr als die Vollbibeln von 1534 und 1545. Innerhalb des Alten Testaments sind ebenso wie in den Vollbibeln von 1534 und 1545 24 Holzschnitte den Büchern Mose, 14 den Königen und 11 den Büchern Samuels gewidmet, während das Buch Richter zwei Abbildungen mehr als in den beiden vorangegangenen Lutherbibeln enthält. Die übrigen Illustrationen finden sich bei Josua, Nehemia, Ester, Hiob, Habakuk und dem Psalter, während in den Chroniken bereits vorhandene Holzschnitte wieder verwendet werden. Im Neuen Testament liegt der Schwerpunkt eindeutig auf der Apokalypse mit wiederum 26 Darstellungen, während den Evangelien nun nicht mehr lediglich sechs oder sieben, sondern 12 Illustrationen gewidmet werden. Dementsprechend enthalten gemäß der lutherischen Tradition die Erzählungen aus dem Alten Testament zwar schon noch deutlich die meisten Illustrationen, wobei hier der Schwerpunkt eindeutig auf den Propheten und den fünf Büchern Mose liegt, doch hat sich die Anzahl der Abbildungen im Neuen Testament durch die Hinzufügung von Illustrationen zu herausragenden Erzählungen der Evangelien um Vergleich zur Bibel von 1545 verdoppelt. Gleichwohl liegt in der Frankfurter Bibel der Schwerpunkt des Neuen Testaments, ebenso wie in den vorlutherischen Bibeln und den lutherischen Bibeln von 1534 und 1545, noch immer auf der Illustrierung der Geschichten aus der Apokalypse, die eben überaus deutlich das Wirken Gottes in der Welt in Abhängigkeit vom menschlichen Handeln vor Augen führen. 

4.2: Tafelmalerei

Bezüglich der protestantischen Tafelmalerei verdienen insbesondere die Tafelgemälde der barocken Epitaphien genannt zu werden, in denen meist jeweils ein oder eine Verstorbene oder ein Ehepaar, seltener indes eine ganz Familie nach dem Tod in besonderem Maße für immer gewürdigt werden sollte. Dabei wurden die Verstorbenen in der Regel in Gestalt von Portraits abgebildet, es gibt aber auch Beispiele, in denen die Illustration von biblischen Geschichten anstelle des Verstorbenen treten oder zusammen mit diesem allein oder zusammen mit seiner Familie dargestellt werden, um auf diese Weise dessen besondere Frömmigkeit hervorzuheben. Als Beispiele seien hier das 1611 von Conrad Rotenburger gefertigte Epitaph des badischen Stiftsschaffners Matthias Henßler in der Besigheimer Stadtkirche(27) oder das Tafelbild der 1503 verstorbenen Barbara Schmotzerin in der Bönnigheimer Cyriakuskirche, geschaffen von einem unbekannten Meister(28), genannt.

Das von zwei Säulen gerahmte Epitaph mit Darstellung des Stiftsschaffners Henßler in Besigheim ist in drei Teile gegliedert. In der zentralen Bilddarstellung sitzt der lediglich mit einem Lendentuch bekleidete Verstorbene in betender Haltung auf einem Podest, der mit seinem linken Fuß auf einem Totenschädel als Symbol für die Überwindung des Todes steht. Er wird seitlich rechts von Gottvater begleitet, der mit seiner Rechten auf den von den Toten Auferstandenen zeigt, der hinter ihm mit Siegesfahne, rotem Mantel und hellem Strahlenkranz auf dem Sagdeckel seines Sarges steht. Seitlich links der betenden Figur steht Moses, der die Gesetzestafeln in seiner Rechten hält und mit seiner Linken auf eine Stelle einer aufgeschlagenen Seite zeigt. Links daneben erscheint das Paradies mit Darstellung der Versuchung, während über dem Betenden Golgata mit den drei Gekreuzigten zu sehen ist. Der Verstorbene wird also als ein Mensch präsentiert, der in seinem Leben zwischen dem alttestamentarischen Gesetz und dem neutestamentlichen Evangelium stand und wohl beidem gerecht zu werden versuchte.

Das Tafelbild mit Darstellung der Barbara Schmotzerin zeigt in den beiden oberen Registern das Elternpaar Adam und Barbara Stratzmann mit ihren insgesamt 53 Kindern, während im mittleren Register die gesamte Familie dargestellt ist, links der kniende Vater mit den 38 Söhnen und rechts stehend die Mutter mit den 15 Töchtern.(29) Das Tafelbild verdeutlicht also die Besonderheit der großen Anzahl von Kindern des Ehepaares, die alle einer einzelnen Darstellung gebühren.(30)

4.3: Wandmalerei

In der Wandmalerei treten in der protestantischen Kunst der Frühen Neuzeit die biblischen Geschichten in den Vordergrund. Es geht um das Wort Gottes, das in bildlicher Form zur Darstellung gelangt, um die Botschaft der Heiligen Schrift nicht nur schriftlich, sondern auch visuell zu unterbreiten und auf diese Weise möglichst vielen Menschen zu vermitteln, auch denjenigen, die in der Frühen Neuzeit des Lesens und Schreibens nur schlecht oder gar nicht mächtig waren. Es geht also um die möglichst breitgefächerte Verkündigung der Bibel, wobei alttestamentliche Motive aus den Büchern Mose wie beispielsweise die Schöpfung oder der Sündenfall und neutestamentliche Szenen aus dem Leben Jesu oder aus der Apokalypse sehr häufig illustriert werden, doch vereinzelt finden sich auch illustrierte Geschichten aus den alttestamentlichen Büchern der Propheten oder den neutestamentlichen Wunderberichten oder Gleichnissen aus den Evangelien. Der Bezug zum Bibeltext war indes von besonderer Bedeutung, weshalb dieser oft als Unter- oder Umschrift oder in Gestalt von beidem zusammen mit den biblischen Geschichten zur Darstellung gelangen.(31) Im Zentrum der Betrachtung steht natürlich immer wieder, sei es nun im Alten oder im Neuen Testament, Christus, und zwar ikonographisch meist als Erlöser, wie wir es in den Darstellungen der Auferstehung, der Himmelfahrt, als Weltenrichter oder als Agnus Dei finden, während uns die Darstellungen der ehernen Schlange eher an das Sterben von Jesus am Kreuz oder die Errettung von Jona aus dem Bauch des Walfisches an die Auferstehung Christi oder die Himmelfahrt des Elia im feurigen Wagen an die Himmelfahrt Christi erinnert.(32)Besonders eindrucksvolle Wandmalereien mit Darstellung biblischer Geschichten in Verbindung mit den jeweils zugehörigen Textstellen sind in der Pfarrkirche in Pfaffenhofen im Kreis Heilbronn (Ausmalung von 1613) oder in der Kilianskirche in Bietigheim-Bissingen (Ausmalung von 1677 und 1691) zu finden.(33) In Pfaffenhofen befinden sich die Illustrationen an der Ostwand des Kirchenschiffes, in Bietigheim-Bissingen füllen sie sämtliche Kirchenwände des Chores und Kirchenschiffes, so dass der Kirchenbesucher die Darstellungen visuell schnell erfassen, aber auch durch langes Betrachten auf sich wirken lassen kann.(34) 

Aktualisiert am: 28.06.2016

Christliche Kunst in Südwestdeutschland: 19. und 20. Jahrhundert

Von: Pelizaeus, Anette

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Die kontroversen Auseinandersetzungen um den evangelischen Kirchenbau
  2. 1.1: Der theologische Umbruch
  3. 1.2: Die Gründung des Vereins für christliche Kunst in Württemberg
  4. 1.3: Das „Eisenacher Regulativ“
  5. 1.4: Das Wiesbadener Programm
  6. 2: Stilwandel im Sakralbau: Raumkonzeption und Ausstattung anhand ausgewählter Kirchenbauten in Württemberg
  7. 2.1: Kirchen nach dem „Eisenacher Regulativ“
  8. 2.2: Die Jugendstilkirchen
  9. 2.3: Kirchen nach dem Wiesbadener Programm
  10. 3: Skulptur
  11. 3.1: Freiplastik
  12. 3.2: Kanzeln
  13. 3.3: Kruzifixe, Tisch- und Altarkreuze
  14. 3.4: Taufsteine und Taufbecken
  15. 3.5: Portale
  16. 4: Malerei
  17. 4.1: Decken- und Wandmalerei
  18. 4.2: Glasmalerei
  19. 5: ZUSAMMENFASSUNG
  20. Anhang

1: Die kontroversen Auseinandersetzungen um den evangelischen Kirchenbau

1.1: Der theologische Umbruch

1809 wurde der altwürttembergische Gottesdienst auch auf die neuwürttembergischen protestantischen Gebiete übertragen, die teils von der lutherischen, teils von der reformierten oder aus einer Mischform aus beiden Richtungen bestimmten Gottesdienstform geprägt gewesen waren.(1) Insbesondere seit den 1830er Jahren regte sich aber immer mehr Kritik gegen die Gottesdienstordnung und es mehrten sich die Stimmen, die eine liturgische Neuregelung des Gottesdienstes forderten.(2) Es wurde beanstandet, dass der Kanzelaltar die Bevorzugung der Kanzel gegenüber dem Altar und dem dort erteilten Sakrament bewirke und man äußerte sogar, dass der Altar gegenüber der Kanzel missachtet würde. Diese Ansicht führte zu einem antiaufklärerischen theologischen Umbruch, der zunächst in der Erweckungsbewegung und schließlich im sogenannten „Neuluthertum“ formuliert wurde, und zwar einhergehend mit der Ablehnung des protestantischen Kirchenbaues des 17. und insbesondere des 18. Jahrhunderts.(3) Man betrachtete die in dieser Zeit entstandenen Kirchen als profane Räume, forderte die Abkehr vom profanen Kirchenraum und die Hinwendung zu einem neuen protestantischen Sakralraum, in welchem einerseits der Altarraum vom Gemeinderaum und andererseits der Altar von der Kanzel deutlich sichtbar voneinander getrennt sein sollten, um eben die besondere Bedeutung des Altares als Ort des Sakraments hervorzuheben. In diesem Sinne kam es zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst einmal zu einer Rückbesinnung auf den byzantinischen, romanischen und klassizistischen Stil, der zum Rundbogenstil bzw. Kameralamtsstil führte, bis Anfang der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts der Kölner Dom vollendet wurde und damit erneut die Gotik als dem eigentlichen Kirchenbaustil in den Fokus der Diskussionen um den richtigen Kirchenbau rückte.(4) Die These vom gotischen als dem wahren christlichen Baustil war bereits Ende des 18. Jahrhunderts in England aufgekommen, setzte sich aber mit dem Bau der Hamburger-Nicolaikirche auch in Deutschland immer mehr durch.(5) Dementsprechend forderte man bei der Liturgischen Konferenz von 1856 in Dresden in insgesamt 20 Thesen insbesondere die inhaltliche Rezeption des Mittelalters als Bauprinzip für den protestantischen Kirchenbau, die Ausrichtung der gesamten Kirchenanlage nach Osten, die Erhöhung und Abtrennung des Altarraumes als gesondert ausgebildeter Chorraum vom Gemeinderaum, die Trennung von Altar und Kanzel, die ihrerseits seitlich des Altares platziert werden sollte sowie die Aufstellung von Beichtstühlen, letzteres bedingt durch den Einfluss des Katholizismus.(6) 

1.2: Die Gründung des Vereins für christliche Kunst in Württemberg

Infolge des wachsenden Interesses an der Förderung christlicher Kunst, das sich insbesondere bei der am Rande des Elberfelders Kirchentages 1851 stattfindenden Konferenz über „die bildende Kunst in der evangelischen Kirche“ zeigte, fasste man die Bildung verschiedener Lokalvereine unter einem Zentralausschuss zusammen.(7)

1857 erfolgte dann auf Initiative des Stuttgarter Oberhofpredigers Carl von Grüneisen nach dem Vorbild des 1852 gegründeten Berliner Vereins für religiöse Kunst die Gründung des Vereins für christliche Kunst in Württemberg, der am 9.2.1857 mit Beschluss der genehmigten Statuten von den Mitgliedern des Konsistoriums, des heutigen Oberkirchenrates, konstituiert wurde.(8) Die Statuten zeigen, dass der Schwerpunkt des Vereins in der Einrichtung und Ausstattung der Kirchen lag und es vornehmlich darum ging, die Gemeinden bei Neubauten, Umbauten, Restaurierungs- und Ausstattungsfragen zu beraten, was dann in der Satzung des Vereins von 1882 noch deutlicher zum Ausdruck kam.(9)

Zu den Mitbegründern des Vereins zählte auch Christian Friedrich Leins(10), der bis 1892 Mitglied im Ausschuss und zugleich Hauptberater des Vereins in architektonischen und künstlerischen Fragen war.(11) 1878 trat auch sein Schüler Hans Dolmetsch(12) dem Ausschuss bei, der nach dem Tod Leins 1892 bis 1908 die Hauptberaterfunktion im Verein wahrnahm. Mit dessen Tod 1908 schwand der Einfluss der Leinsschule auf den württembergischen Kirchenbau und somit die Bauweise in Rückbesinnung auf romanische und gotische Stilelemente. Nachfolger von Dolmetsch wurde zunächst Theodor Fischer und nachfolgend dessen Schüler Martin Elsaesser, der den württembergischen Kirchenbau der beiden nachfolgenden Jahrzehnte durch seine Hinwendung zum Jugendstil, zur Neuen Sachlichkeit und zum Expressionismus entscheidend prägte.(13) Der Verein hatte die Funktion der Kunstberatung für die Landeskirche und die genannten Architekten standen den Gemeinden als Fachleute zur Seite, während Rudolf Lempp, Wilhelm Jost und Hans Seytter als Hauptberater in allen Kunst- und Baufragen fungierten und darüber hinaus auch finanzielle Beihilfen bei Bauvorhaben oder der Beschaffung von Altargeräten oder Paramenten gewährten.(14) 

1.3: Das „Eisenacher Regulativ“

Nach den auf dem Kirchentag in Barmen 1860 entwickelten 25 Thesen(15) über den evangelischen Kirchenbau, in denen unter anderem festgelegt wurde, dass zu einer Kirche auch ein Chor gehöre, in welchem der Altar stehen und die Kanzel seitlich vor dem Chor angeordnet werden solle, wurde dann auf der vom 30.5.-5.6.1861 tagenden Kirchenkonferenz in Eisenach unter Beteiligung der Architekten August Friedrich Stüler (Berlin), Christian Leins (Stuttgart), Ernst Friedrich Zwirner (Köln) und Conrad Wilhelm Hase (Hannover) ein „Regulativ“ aufgestellt, das man allgemein als das sogenannte „Eisenacher Regulativ“ bezeichnet.(16) Das Programm, in welchem die Grundform des evangelischen Kirchenbaus festgeschrieben wurde, umfasst insgesamt 16 Punkte und sah nun folgendes vor: Eine evangelische Kirche solle als dreischiffiger längsrechteckiger Bau mit Querhaus und einem leicht erhöhten Chor im Osten gestaltet werden. Der Haupteingang solle gegenüber dem Chor gelegen sein, der Turm ebenfalls im Westen und zwar entweder über dem Eingang oder seitlich desselben. Der Altar solle im Chor, nicht aber an dessen Rückwand stehen und er solle mit einem Kruzifix versehen sein. Die Kanzel sei nicht im Chor, und zwar weder hinter noch über dem Altar aufzustellen, sondern sie sei bei kleineren Kirchen an einem Pfeiler des Chorbogens, bzw. bei größeren Kirchen an einem der östlichen Pfeiler des Mittelschiffes anzuordnen. Die Orgel müsse auf der Empore über dem Haupteingang ihren Platz haben, allerdings dürfe die Empore nicht den Blick durch das Kirchenschiff zum Chor hin versperren. Außer der westlichen Empore sollen weitere Emporen allenfalls an den Längsseiten des Kirchenbaues angebracht werden, jedoch keinesfalls im Chor, um den freien Blick in den Chor nicht zu stören. Darüber hinaus wurde bestimmt, dass die Kirchenstühle in der gesamten Kirche so anzuordnen seien, dass Altar und Kanzel während des gesamten Gottesdienstes zu sehen seien. Schließlich wurde noch angeführt, dass die Kirche auch über eine Sakristei in Gestalt eines Anbaues neben dem Chor verfügen solle.

 

1.4: Das Wiesbadener Programm

Seit etwa 1880 formierte sich indes seitens des prosperierenden liberalen Lagers des Luthertums, der Reformierten und des Kunsthistorikers und Architekten Cornelius Gurlitt (1850-1938) Protest gegen das sogenannte Eisenacher Regulativ.(17) Es wurde beanstandet, dass der kreuzförmige neugotische Longitudinalbau nicht die Bedürfnisse eines protestantischen Kirchenraumes erfülle, in dem jedermann die Predigt gut hören und die liturgischen Handlungen am Altar durch eine gute Sicht nachvollziehen könne. Gurlitt forderte vielmehr die Anpassung des Kirchenraumes an die Erfordernisse der Liturgie und führte in diesem Sinne auch die Rückbesinnung auf den Baustil des Barock ins Feld.(18) Genährt wurde diese Kritik durch den Vortrag des Dresdener Pfarrers Emil Sulze über den evangelischen Kirchenbau mit der Frage nach der Ausrichtung der evangelischen Kirche im gesellschaftlichen Kontext des 19. Jahrhunderts.(19) Für ihn stand weniger eine bestimmte Stilrichtung des Kirchenbaus oder ein bestimmter Repräsentationsbau als vielmehr die lebendige Gemeinde im Vordergrund, für die eine Gemeindekirche ohne strikte Trennung zwischen Altar- und Gemeinderaum von wesentlicher Bedeutung sei.(20) Die Gemeinde, so konstatierte er, brauche eine Kirche, in der sie neben dem Gottesdienst auch all ihre gemeindlichen und sozialen Aktivitäten zusammenfassen könne und propagierte dementsprechend den Gruppenbau bzw. das Gemeindezentrum mit verschiedenen Gebäudekomplexen, die flexibel und je nach Bedarf größer oder kleiner, mit mehr oder weniger Bauten zu planen seien. In der gegenüber den übrigen Bauten des Gemeindezentrums herausgehobenen Kirche sollte sich die Gemeinde um den Altar versammeln können, wobei der Kanzel der gleiche Stellenwert wie dem Altar zuzumessen und sie dementsprechend auch in der Nähe desselben zu platzieren sei.

 

Entsprechend diesen Vorstellungen versuchten 1891 der Wiesbadener Pfarrer Emil Veesenmayer und der Berliner Architekt Johannes Otzen anlässlich der Errichtung einer dritten evangelischen Kirche in Wiesbaden die Tradition der funktionalen Predigtkirche wieder aufleben zu lassen und veröffentlichten das Wiesbadener Programm(21), in welchem sie folgendes festhielten: Die Kirche ist Versammlungshaus einer Gottesdienst feiernden Gemeinde, wobei die Einheit der Gemeinde durch die Einheitlichkeit des Raumes zum Ausdruck gebracht werden soll, und zwar ohne Raumteilung in mehrere Schiffe oder durch eine Untergliederung in Chor und Langschiff. Da die Feier des Abendmahls mitten in der Gemeinde stattfinden soll, bedarf der Altar einer besonderen Stellung innerhalb der Kirche, der von allen Seiten möglichst gut sichtbar zu sein habe. Die Kanzel sei mindestens gleichwertig mit dem Altar zu betrachten und zudem mit der im Angesicht der Gemeinde anzuordnenden Orgel- und Sängerbühne organisch zu verbinden.

 

Aufgrund der nun einsetzenden Diskussion um das Für und Wider der ein und der anderen Seite(22), wobei man in Württemberg mehrheitlich weiterhin am „Eisenacher Regulativ“ festhielt, erfolgte 1898 eine Überarbeitung des „Eisenacher Regulativs“ durch die XXIII. Deutsche evangelische Kirchenkonferenz für den Bau evangelischer Kirchen in Eisenach, jedoch ohne das sog. „Eisenacher Regulativ“ grundsätzlich in Frage zu stellen.(23) Man hielt weiterhin an dem um einige Stufen erhöhten und gewölbten Chorraum fest und empfahl noch immer den Anschluss an die historischen Baustile als Vorbild für die christliche Kirche. Beim 2. Kongress für den Kirchenbau des Protestantismus in Dresden 1906 unter dem Vorsitz von Pfarrer Dibelius und Cornelius Gurlitt, an welchem auch Martin Elsaesser teilnahm, löste man sich von der im 19. Jahrhundert gängigen Praxis der Vorschreibung bestimmter als christlicher oder kirchlicher definierter Stile für den Kirchenbau zugunsten der Vorstellung eines allgemein einheitlichen „Zeitstiles“ ohne spezifische Benennung der Formen.(24) Zudem rückte man von der Vorstellung des Kirchenraumes als Zweckbau ab, was zur Folge hatte, dass nun die künstlerische Gestaltung zur Steigerung des Raumausdrucks an Bedeutung gewann.(25) Gurlitt formulierte diesen Leitgedanken in seinem ebenfalls 1906 erschienen Handbuch der Architektur in folgendem Satz: „Die Darstellung des Glaubens der Gemeinde vor Gott und vor sich selbst wird als das Wesen des Gottesdienstes anerkannt. Darstellung aber ist Kunst. So sollte der protestantische Gottesdienst Kunst sein: Kunst des Wortes, Kunst des Tons, Kunst der Form.“(26) Die Form sollte sich also aus dem Zweck ergeben, diesem angepasst sein und in diesem Sinne dem Gegenstand Form verleihen. Der Raum wurde nun als übergreifende Gesamtheit angesehen, der in beliebiger Form dem Zweck angemessen gestaltet und gruppiert werden konnte.

 

Diese Leitgedanken prägten auch die XXIX. Eisenacher Kirchenkonferenz, in der man auf jegliche formale Festlegung verzichtete und lediglich „ernste und edle Einfachheit in Gestalt und Form“ im Rahmen eines einheitlichen Ganzen forderte.(27) Die Stilfrage blieb vollkommen offen, man empfahl lediglich die Konzeption eines auch im Außenbau sichtbaren Chores für die Feier des Abendmahls, für Konfirmationen oder Trauungen, ohne dies aber in irgendeiner Form vorzuschreiben. Die Stellung von Altar und Kanzel wurde darüber hinaus gar nicht thematisiert und auch die Frage der Platzierung von Orgel und Sängerchor allenfalls vage behandelt.(28) Beim Westdeutschen Kursus für Kultus und Kunst in Marburg 1924 hielt Martin Elsaesser ein Referat, dessen Thesen als „scharfe Thesen“ in die Kirchenbaugeschichte eingingen.(29) Elsaesser kritisierte, dass es aufgrund eines nie klar definierten Raumideals der evangelischen Kirche noch immer keinen Typus des evangelischen Kirchenbaus gebe und forderte die klare Einräumigkeit mit der Tendenz zur Zentralität unter Wahrung der Trennung zwischen der großen Predigtkirche mit profanem Charakter und der kleinen Feierkirche mit sakralem Charakter. Dieses additive Bauprinzip äußerte sich in seiner Konzeption der Esslinger Südkirche mit einem rechteckigen, lichtdurchfluteten und flachgedeckten Predigtraum, an den sich eine kleine kreisförmige Feierkirche mit überfangendem Rabbitzgewölbe und kleinen, farbig verglasten Fenstern, durch das gedämpftes Licht einströmt, anschließt.(30) Der stimmungsvolle halbdunkle Feierraum steht also in starkem Kontrast zum lichtdurchfluteten Predigtraum, wodurch sich eine zweigliedrige Kirchenform im Sinne einer Kirche als geistige und symbolische Kraft ergibt.(31)

 

Eben gerade aufgrund dieser Überlegungen setzte sich das Wiesbadener Programm auch in Württemberg spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig durch.(32) In der Zeit zwischen 1957 und 1966 entstanden nun neue Kirchenbauten mit deutlicher Tendenz zum kirchlichen Gemeindezentrum mit einem differenzierten Raumprogramm, das neben der Kirche in der Regel einen Gemeinderaum, Clubräume für Jugendliche und Erwachsene, Kindergarten und Wohnungen für kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umfasst.(33) In diesen neuen Baukonzeptionen, die den Wandel von der Sonntagskirche zur Alltagskirche dokumentieren, wird die Verflechtung kirchlicher Einrichtungen mit dem öffentlichen Leben, und zwar sowohl hinsichtlich des sozialen Engagements als auch der Freizeitgestaltung, offenkundig.(34) Gemeinde und Altarbereich rücken einander näher, die Prinzipalstücke werden ohne Trennung in die Versammlung der Gemeinde einbezogen. Aufgrund dieser liturgischen Grundprinzipien werden die Räume breiter, starre Symmetrie und axiale Ausrichtung des Kirchenraumes werden vermieden, Grund- und Aufriss werden unter Einbeziehung plastischer Wandflächen und Öffnungen vollkommen frei gestaltet. Ziel dieser offenen Konzeption ist eine räumliche Durchbildung mit differenzierter Lichtführung, die mit raffinierten Gestaltungsmitteln eine auffallende Tendenz zur Monumentalität und Feierlichkeit zugleich aufweist.(35) Die Kirchen sind nun Festräume des Wortes(36), ihre Sakralität ergibt sich durch die vielfältigen architektonischen Gestaltungsmittel, die jeden Kirchenbau zu einem individuellen Ort der Gottesdienstfeier machen. Da der Kirchenbau keine städtebaulich herausragende Funktion mehr erfüllt, gilt es das Bauensemble von Kirche und Gemeindezentrum durch die architektonische Qualität von der Umgebung zu differenzieren, weshalb auch die Verwendung bestimmter Baustoffe immer wichtiger wird. Auch der Kirchturm ist nicht mehr in erster Linie repräsentatives Element, sondern Bauglied, das mehr und mehr als Glockenträger und weniger als Turm verstanden wird.(37) 

 

2: Stilwandel im Sakralbau: Raumkonzeption und Ausstattung anhand ausgewählter Kirchenbauten in Württemberg

2.1: Kirchen nach dem „Eisenacher Regulativ“

Entsprechend des sog. „Eisenacher Regulativs“ wurde beispielsweise die Lutherkirche in Bad Cannstatt(38) von den Architekten Richard Böklen und Carl Feil 1898-1900 neu erbaut. Der Innenraum ist durch die dreischiffige Anlage mit dem Rechteckchor mit flachem Chorschluss im Osten, dem breiten Mittelschiff und den beiden schmalen Seitenschiffen ungleicher Breite sowie durch die Empore auf der West- und Nordseite geprägt. Im Gegensatz zum Außenbau, der in Backstein ausgeführt wurde, zeigt der Innenraum Kalk- und Sandstein. Der Chor, das Mittelschiff und das nördliche Seitenschiff über den Emporen sind kreuzrippengewölbt, das nördliche Seitenschiff unterhalb der Empore ist pultdachgedeckt und das südliche Seitenschiff zwischen den quer gestellten Rundbögen flachgedeckt. Das Mittelschiff wird einerseits durch die kleinen Fenster des Arkadengeschosses und die breiten und gleichsam hohen Obergadenfenster in Gestalt von spitzbogig schließenden Drillingsfenstern beleuchtet. Die Arkaden zeichnen sich durch den alternierenden Wechsel zwischen einfachen und gekuppelten Rundstützen mit überaus mächtigen Kapitellen aus, auf denen breite Segmentbogen ruhen. Die Emporenbrüstung ist mit Blendmaßwerk verziert. Die gekuppelten Stützen werden im Emporengeschoss in Höhe der Brüstung wieder aufgenommen, hier sind sie indes deutlich höher, denn auf ihnen ruhen die Gurt- und Diagonalbögen sowohl des Haupt- als auch des nördlichen Seitenschiffes. Alle Gliederungselemente des Kirchenraumes sind farbig in den Tönen Grau, Ocker und Rosa gefasst, insbesondere sei hier der Chorbogen erwähnt, der mit einem geometrischen Muster in den Formen des Jugendstils verziert ist. Die Ostseite des Chores ziert ebenso wie die Obergadenfenster eine wiederum spitzbogig schließende Dreifenstergruppe. Der Altar befindet sich im Chor, die Kanzel auf der Südseite des Chorbogens und der Taufstein auf der Langhaussüdseite, vor der Kanzel. Die Orgel auf der Westseite wird demgegenüber von einer großen Rosette hinterfangen, wobei das Orgelprospekt Rücksicht auf die Form der Rosette nimmt.

Ebenfalls entsprechend des „Eisenacher Regulativs“ wurde 1894/1895 die Andreaskirche in Stuttgart Uhlbach von Heinrich Dolmetsch umgebaut.(39)Die Chorturmkirche war in Gestalt einer flachgedeckten Saalkirche mit östlichem Chorquadrat und südlich sich anschließender Sakristei erbaut worden, wobei ein niederer Chorbogen den niederen Chor vom höheren, westlich des Chores sich anschließenden Langschiff trennte. Dolmetsch ersetzte zunächst die flachgedeckte Balkendecke über dem Kirchenschiff durch ein gesprengtes hölzernes Spitztonnengewölbe, wodurch der Raum enorm an Höhe gewann.(40) Er platzierte entsprechend des sog. „Eisenacher Regulativs“ die Kanzel am nördlichen Chorbogenpfeiler, den Altar im Westen des Chores, den Taufstein vor der Kanzel, die Orgel auf der Westempore und die Kirchenbänke in Ausrichtung auf die Prinzipalstücke, so dass durch diese Anordnung die Konzentration des Betrachters auf Altar und Kanzel sehr gut gegeben war. Die aus Balken, Leisten und Paneelen sich zusammensetzende Holzdecke ist neben unterschiedlichen Ornamentstreifen mit verschiedenen Darstellungen als Symbole für den Kosmos bemalt. So sind die Apostel Sinnbilder für die Kirche, die Tugenden stehen für das christliche Volk, die Reben für die Natur sowie Sonnen, Sterne und Sternbilder für das Universum. Durch die Erhöhung der Raumdecke erhöhte sich nun auch die Ostwand des Kirchenschiffes über dem niedrigen Chorbogen, der seinerseits jedoch nicht auch erhöht werden konnte, da dies aus statischen Gründen auch eine Erhöhung des Chorgewölbes erfordert hätte. Eine architektonische Lösung für die überdimensionale Höhe der Ostwand war also unerlässlich und Dolmetsch löste dieses Problem insofern, als er über den Segmentbogen des Chorbogens einen zweiten, spitzbogig schließenden, auf zwei Rechteckpfeilern ruhenden Blendbogen setzte. Dieser ist gegenüber der Wand erhaben, die Wand gegenüber dem Blendbogen also eingetieft. In das westliche Bogenfeld setzte Dolmetsch das bisher auf dem Dachboden befindliche, vermutlich aus dem 16. Jahrhundert stammende Kruzifix, dessen Abschlüsse des Längsbalkens genau an die Bogenscheitel von Spitz- und Segmentbogen stoßen. Das Kruzifix ist von einer Mandorla hinterfangen, die nicht skulpiert ist, sondern aus einem aufgemalten Strahlenkranz besteht. Das Binnenfeld der Mandorla und des Bogenfeldes um die Mandorla herum sind ebenso wie die Archivolten mit Ornamentmalerei, bestehend aus Weinreben und Passionsblumen, verziert. Hoch oben im Bogenfeld der östlichen Kirchenschiffwand zieht Christus den Blick auf sich und steht somit im Zentrum des über ihm dargestellten Kosmos.(41) So wird also durch das Bildprogramm einerseits und die Platzierung der Prinzipalstücke entsprechend des sog. „Eisenacher Regulativs“ andererseits der Blick auf den Chor hin ausgerichtet und somit Kirchenschiff und Chor miteinander verbunden. Im Chorgewölbe erscheinen vier Propheten mit Spruchbändern, die vom Kommen des Messias zeugen. Die Halbfiguren wachsen vor einem Himmel mit Sternen und Sonnen aus Kelchen eines Rebengeflechts hervor. Die Propheten sind Sinnbilder für die Vorfahren Jesu in Gestalt eines Stammbaums, aus dem in mittelalterlichen Darstellungen die Halbfiguren aus Zweigen herauswachsen.(42) Dolmetsch entwarf für die Uhlbacher Andreaskirche indes nicht allein die Raumkonzeption und das Bildprogramm, sondern darüber hinaus auch die Gestalt der Prinzipalstücke, der Emporen, der Kniebank und die gesamte Ornamentik von Spitztonne, Fenstergewänden und Fliesen, um nicht allein eine Verbindung von Architektur und Bildprogramm, sondern auch von Architektur und Ausstattung zu schaffen, die dem gesamten Raum Einheit und Klarheit verschafft, die den Kirchenbesucher zur Ruhe, zu sich selbst und zu Gott kommen lassen sollte.

2.2: Die Jugendstilkirchen

Die 1908-1910 von Theodor Fischer im Jugendstil errichtete Pauluskirche in Ulm(43) richtet sich hinsichtlich ihrer Bau- und Raumkonzeption gegen das sog. „Eisenacher Regulativ“. Schon der Grundriss des in Nachfolge der Pfullinger Hallen (1904-1907), der Dorfkirche in Gaggstadt (1904-1906), des Pfullinger Schönbergturms (1905-1906) und der Stuttgarter Erlöserkirche (1906-1908) errichteten Kirchenbaues ist in Umkehrung des traditionellen Schemas gegliedert. Der Eingang befindet sich in der westlichen Apsis, die mit einer umlaufenden Zwerggalerie und von einem außen verdeckten Lichterband versehen ist, während der gerade schließende Chor zwischen zwei mächtigen Treppentürmen im Osten gelegen ist, wobei diese Baugruppe von außen wie ein mächtiges „Westwerk“ wirkt. Die Ostseite wird durch Obergadenfenster belichtet, der eingetiefte Altarraum mit davor befindlicher Altarmensa ist durch zwei Betonstützen in drei Öffnungen gegliedert.(44) Zwischen der westlichen Apsis und der östlichen Baugruppe befindet sich das Kirchenschiff, das zwar noch die traditionelle basilikale Baugestalt aufweist, obschon das Hauptschiff aufgrund der äußerst schmalen Seitenschiffe einen wahrhaft saalartigen, nicht aber basilikalen Eindruck macht, zumal die beiden Seitenschiffe mit 12 niedrigen Arkaden einen lediglich schmalen Gang bilden. Der Saalraum wird in seiner Breite zusätzlich durch querlaufende Stahlbetonbinder betont und die Raumtiefe durch das Vorziehen der rückwärtigen gestaffelten Empore überspielt.(45) Im Sinne der Zentrierung der liturgischen Orte befindet sich rechts neben dem Altarraum die Kanzel, links der Taufstein.(46) Fischer kehrt also das traditionelle Raumschema insofern um, als die östliche Chorapsis zum westlichen Eingang und das klassische „Westwerk“ zum Chor wird. Auch das basilikale Raumverhältnis vom Mittelschiff zu den Seitenschiffen wird insofern verändert, als das Mittelschiff enorm an Breite gewinnt, die Seitenschiffe indes zu schmalen Gängen reduziert werden. Die Raumkonzeption in Fischers Kirchenbau öffnet sich also dem Bauideal des neuzeitlichen Protestantismus, ohne indes die überkommenen Raumideen vollkommen aufzugeben.

Dies trifft auch für die Kirchenbauten von Martin Elsaesser zu, als dessen wichtigste Werke die Stadtpfarrkirche Stuttgart-Gaisburg von 1913 und die Südkirche in Esslingen von 1919 bzw. 1925/1926 gelten mögen, die beide ebenfalls im Jugendstil errichtet sind. Bei der Stadtkirche in Stuttgart-Gaisburg, nach dem Entwurf für Lichtental das zweite Projekt von Martin Elsaesser, zeigt sich sehr deutlich die Abwendung vom Prinzip der Raumaddition und der Zuwendung zum Prinzip der Raumintegration und Durchdringung von verschiedenen Raumanlagen.(47) Der Grundriss des Kirchenbaues, sich auszeichnend durch eine westliche Vorhalle mit darüber sich erhebendem Turm und seitlich begleitenden Treppenaufgängen, das östlich sich anschließende Kirchenschiff, die östliche Chorapsis und die südlich des Chores sich anschließende Sakristei, besteht in der Gestalt des Kirchenschiffes aus der Zusammenfügung von insgesamt zwei eigentlich gänzlich differierenden Raumkonzepten, so nämlich des kreuzförmigen Longitudinalbaues in Gestalt einer dreischiffigen Anlage mit dem ovalen Zentralraum. Dabei bildet der kreuzförmige und gleichsam dreischiffige Longitudinalbau die äußere Hülle des Kirchenbaues, in welche der längsovale Zentralraum im Inneren integriert wird. Die Kreuzförmigkeit wird dabei insofern aufgehoben, als das Längsoval den einstigen Chor mit Chorapsis hinter dem Querhaus ersetzt und gleichzeitig eine Tangente mit den Seitenschiffen bildet. Das Längsoval zeichnet sich durch insgesamt 10 Stützen aus, deren vier östliche mit den Stützen der Seitenschiffe verschmelzen, während die westlich sich anschließenden Stützen ovalförmig in den rechteckigen Raum gestellt sind. Parallel zum westlichen Pfeilerpaar sind in östlicher Richtung zwei zusätzliche Stützen gestellt, um den Kirchenraum in seiner Longitudinalität zu steigern und damit gleichzeitig dem Längsoval wieder an Dominanz zu nehmen. Dementsprechend sind alle Raumteile als gleichwertig zu betrachten, obschon eine Ausrichtung auf den Chor noch deutlich intendiert und eine letztendliche Raumverschmelzung noch nicht gegeben ist.(48) Der Außenbau zeigt im Gegensatz zu dem ovalen Kern des Innenraumes den rechteckigen Baukörper mit monumentalem Turm, einzig durch die tempelartige Hauptfassade mit abschließendem Dreieckgiebel, die Risalite, Lisenen, Maßwerkstellungen und Fensterordnungen in den seitlichen Fassaden aufgelockert, jedoch kommt hier noch keine Übertragung des zentralen Innenraumes auf den Außenbau zustande und bleibt noch zukünftigen Gestaltungskonzepten überlassen.(49)

Die nach einem Entwurf einer „Kleinen Volkskirche“ von Martin Elsaesser 1925/1926 erbaute Südkirche in Esslingen setzt sich aus einem Predigtraum in Gestalt eines dreischiffigen Longitudinalbaues mit flacher Holzbalkendecke und einem östlich sich anschließenden Feierraum in Gestalt eines gewölbten Rundbaues zusammen, dessen westliche Tangente durch den Anschluss an den Predigtraum konkav eingeschwungen ist.(50) Dieser Bogen ist durch einen kräftig profilierten Rahmen eingefasst und zudem durch zwei kurze Wandpfeilervorlagen hervorgehoben.(51) Unter diesem Bogen steht der sowohl von der Predigt- als auch der Feierkirche zu nutzende Altar, der als Bindeglied zwischen den beiden Raumteilen fungiert. Der Rundbau der Feierkirche, die nicht die Höhe des Predigtraumes erreicht, aber dafür Platz für Empore und Sängerbühne bietet, wird von einer vieleckig gebrochenen Außenmauer umschlossen, wobei zwischen dem Rundbau und dem Polygon ein schmaler Chorumgang vermittelt, der auf der Nordseite die Flucht des Langhausseitenschiffes aufnimmt.(52) Rundbogenarkaden öffnen sich von hier aus in runder Stellung zum Zentralraum hin, der per se nicht direkt beleuchtet ist. Das einzige Licht nämlich fällt durch kleine, stark farbig verglaste Fenster der Außenwände, wodurch sich durch den Umgang ein Lichtkreis ergibt, der den Feierraum von oben her beleuchtet und im Erdgeschoss in diffusem Licht bleibt.(53) Über den Arkaden erhebt sich das Gewölbe, dessen einzelnen Gewölberippen in alternierender Höhe ansetzen, wodurch die Wand mit dem Gewölbesystem verschmilzt. Die dreischiffige, durch Arkaden gegliederte Predigtkirche zeichnet sich durch ungleich breite Seitenschiffe aus. Das nördliche Seitenschiff ist durch drei tiefe, tonnengewölbte Nischen gegliedert, die durch rundbogige Durchgänge miteinander verbunden werden, so dass ein schmaler Laufgang zur seitlichen Bestuhlung des Mittelschiffes entsteht.(54) Das südliche Seitenschiff ist breiter, hier finden sich quergestellte Bestuhlungsreihen, die zur Außenmauer hin ansteigen und durch eine hölzerne Brüstungswand vom Mittelschiff abgetrennt sind. Das Arkadengeschoss zeichnet sich durch breite gedrückte Rundbogenfenster, über denen jeweils zwei kleine Hochrechteckfenster angeordnet sind, während der Obergaden allein durch schmalhohe Rechteckfenster gegliedert ist. Sowohl im Arkadengeschoss als auch im Obergaden werden die großen Fenster von vertikal aufsteigenden Wandvorlagen begleitet, wodurch die Vertikalität der Fassaden trotz des breiten Gesimses zwischen Arkadengeschoss und Obergaden deutlich betont wird. Der gesamte Kirchenbau ist in Backstein ausgeführt, doch hellt eine plastisch hervortretende Horizontalverfugung das Mauerwerk auf und belebt es, je nach Lichteinfall, zugleich. Die verputzten Wände und Decken der Seitenschiffe sind mit einer Schablonenmalerei in Pastelltönen verziert, welche die einzelnen Wände in unterschiedliche Rechtecke auflöst.(55) Die Schablonenmalerei steht in starkem Kontrast zu der kräftig graublauen Farbfassung der Arkadenlaibungen, der Seitenschiffspfeiler und der Altarrahmung, wodurch die einzelnen Gliederungselemente der Raumteile stark voneinander abgehoben werden. Die graublaue Farbgebung zeigt auch die Bestuhlung, hier jedoch in unterschiedlichen Tonwerten, die den Innenraum optisch beleben. Die Expressivität der einzelnen Raumteile durch die architektonische Gestalt von Feier- und Predigtraum wird also durch die jeweilige Farbgebung und Lichtdurchflutung noch umso mehr gesteigert. Die innere Raumpluralität wird indes durch die Komposition des Außenbaues aufgehoben, denn über Predigt- und Feierraum zieht sich ein einheitliches Satteldach, das die beiden Raumteile unweigerlich miteinander verbindet. So wird folglich die Differenzierung der beiden Raumteile im Inneren durch die Zusammenziehung im Außenbau einerseits, aber darüber hinaus auch durch die beidseitige Nutzung von Altar, Orgel und Empore aufgehoben. So steht die unterschiedliche liturgische Nutzung von Feier- und Predigtraum zwar deutlich im Vordergrund der Raumkonzeption der Esslinger Südkirche und doch sind auch raumverbindende Elemente erkennbar, die als durchaus zukunftsweisend anzusehen sind.

2.3: Kirchen nach dem Wiesbadener Programm

Fellbach, Melanchthonkirche. Innenraum

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Inventarisation, Inv.-Nr. 47332.1.001-00

Bei den Kirchen, die nach dem Wiesbadener Programm entstanden sind, tritt die Verschmelzung von Kirchenschiff und Chor mehr und mehr in den Vordergrund, wie zum Beispiel die Melanchthonkirche in Fellbach, die Martin-Lutherkirche in Bietigheim-Bissingen, die Versöhnungskirche in Leonberg-Ramtel oder die Sommerrainkirche in Bad Cannstatt zeigen. 

Die 1962-1964 erbaute Melanchthonkirche in Fellbach(56) ist eine Saalkirche in Gestalt eines Zeltes, die über dem Grundriss eines unregelmäßigen Sechsecks errichtet ist. Sie weist zwei lange Seiten im Westen und Osten, sowie zwei jeweils kurze Seiten im Norden und Süden auf. Der Baukörper setzt sich aus dem Erd- und dem offenen Dachgeschoss zusammen, das jedoch auf den Giebelseiten im Norden und Süden unterschiedlich gestaltet ist. Der Raum spitzt sich von Nordosten zum Altar im Südwesten hin zu, so dass der Blick nach Betreten des Innenraumes auf den Altar hin konzentriert wird. Lichtstreifen in der Technik der Glasmalerei trennen das Erd- vom Dachgeschoss und bilden entsprechend der Langseiten des Raumes Querstreifen in der Längsrichtung des Raumes, während sie auf den beiden Giebelseiten entsprechend der Form des Giebels ansteigen und in der Spitze zusammenlaufen. Insofern dienen die Lichtstreifen der Hervorhebung des Altares auf der Südseite sowie der Orgelempore mit der Orgel auf der Nordseite. Die Last des steil aufragenden Daches ruht auf den beiden Langseiten des Raumes auf dreieckförmigen Stahl- und Betonträgern der  gegenüber der Dachtraufe vorgezogenen Wände des Erdgeschosses. Da sie demzufolge den Lichtstreifen vorgelagert sind, bilden sie für diese ein zusätzliches Gliederungselement.


Bietigheim-Bissingen, Martin-Luther-Kirche. Innenraum

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Inventarisation, Inv.-Nr. 05322.1.0001-00

Die 1966-1968 erbaute Martin-Luther-Kirche in Bietigheim-Bissingen(57) ist eine Saalkirche, deren Seiten von ungleicher Länge und Höhe sind und zudem nicht rechtwinklig aufeinandertreffen. Von Westen nach Osten wird die Kirche schmäler, so dass der Blick von hinten nach vorn gezogen wird. Dieser Eindruck wird zudem dadurch gesteigert, dass die Südseite eine Glasfront bildet, die durch vertikal angeordnete Buntglasfenster entstanden ist. Die parallel nebeneinander geordneten, hellen Buntglasfenster leiten den Blick von Fenster zu Fenster zu Altar, Kreuz und Kanzel. Ein von der Saalkirche abgesetzter Chor existiert nicht, ein solcher ist nur insofern angedeutet, als der Altar durch erhöhten Klinkerboden von der Saalkirche mit Keramikplatten abgesetzt ist. Auf der Nordseite des Kirchenraumes befinden sich zwei Türen, die in die Sakristei und einen Nebenraum führen, östlich schließt sich mit einem kleinen Vorbau die Orgel an. Der Fußboden besteht aus Keramikplatten, die Wände sind weiß getüncht. 


Leonberg-Ramtel. Versöhnungskirche. Innenraum

Archiv des Vereins für christliche Kunst / Verein für Kirche und Kunst

Die Versöhnungskirche in Leonberg-Ramtel(58) wurde 1965 von Heinz Rall erbaut. Sie zeichnet sich durch schiefe Wände aus, die in mehreren Teilen ineinander verschoben und in verschiedenen Winkeln aneinandergefügt sind. Altar und Kanzel stehen an einer Wand, vor der die Kirchenstühle in Ausrichtung auf diese beiden Prinzipalstücke angeordnet sind, während rechts neben der Kanzel Gestühl in Ausrichtung auf die seitliche Orgel platziert ist. Die Wand hinter Altar und Kanzel ist also selbst nicht als Chorwand auszumachen und wird allein durch die Prinzipalstücke als solche markiert. Sie wird indes noch zusätzlich durch die Lichtstreifen hervorgehoben, die sich durch die voreinander geschobenen Wände ergeben und indirektes Licht auf die Chorwand werfen. Der Altar in Gestalt eines Tischaltares ist per se nur daran erkennbar, dass über ihm eine symbolische Dornenkrone von Hans Peter Fitz aus dem Jahr 1965 schwebt. 


Bad Cannstatt, Sommerrainkirche. Innenraum

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Inventarisation, Inv.-Nr. 12130.1.001-00

Der Innenraum der 1966 eingeweihten Sommerrainkirche in Bad Cannstatt(59) erhebt sich über dem fünfseitigen Grundriss und ist vornehmlich durch Sichtbeton geprägt, der das Innere klar und nüchtern erscheinen lässt. Der fünfseitige Grundriss bewirkt, dass die Westwand gerade ist, die Seitenwände indes diagonal verlaufen, wobei sich die beiden westlichen Außenwände nach außen öffnen, während die beiden östlichen Seitenflanken auf die östliche Spitze hin zulaufen. Durch diese Komposition wird der Blick automatisch von Westen, wo sich der Eingang befindet, nach Osten zum Altar hin ausgerichtet. Die Zentrierung auf den Altar hin wird auch durch die dreiteilige Deckenkonstruktion betont, die in Diagonalen zum östlichen Scheitelpunkt stark ansteigt. Lichtstreifen aus Glas, die am oberen Abschluss des Kirchenraumes angeordnet sind und somit zwischen Kirchenraum und Decke liegen, heben dies noch einmal deutlich hervor. Die Westempore, unter welcher der Eingang ins Kircheninnere liegt,  ist im Innenraum über Treppenaufgänge im Norden und Süden zugänglich. Auf der Westseite und den beiden diagonal gestellten westlichen Seitenwände durchbrechen längsrechteckige Glasfelder die Betonwand, so dass genügend viel Licht in den Kirchenraum dringen kann. Die Glasfelder der Seitenwände sind noch zusätzlich mit Farbglasfenstern versehen, die ebenfalls den Blick zum Altar hin ziehen. Einen eigens für den Altar vorgesehenen Raum gibt es nicht, doch da der Altar im östlichen spitzen Winkel  auf einem runden Podest steht, ist dieser durch die räumliche Zuspitzung und durch den Podest hervorgehoben. Der Podest hebt sich insofern vom übrigen Fußboden hervor, als er aus Beton besteht, den übrigen Fußboden hingegen aus rotem Klinker. Südlich des Altars steht der Ambo, der gleichzeitig auch als Kanzel fungiert, nördlich des Altars befindet sich das Taufbecken, wobei allein der Altar auf dem Podest steht. 

3: Skulptur

Da die Kirchen des 19. Jahrhunderts in Württemberg in der Mehrheit keine Neubauten waren, sondern vornehmlich im Sinne des Historismus restauriert wurden, existieren aus dieser Epoche in erster Linie Kruzifixe, die entweder in Gestalt großer, hinter dem Altar aufgestellte Kruzifixe, als frei über dem Altar schwebende Kruzifixe oder als Tischkruzifixe hergestellt wurden, wobei letztere auch für die Sakristeien der vielen württembergischen Stadt- und Pfarrkirchen angefertigt wurden. Zudem bedurfte es im Zuge der Innenrestaurierungen auch an vielen neuen Altären und Taufsteinen, die ebenfalls im Stil des Historismus mit romanisierenden oder regotisierenden Formen geschaffen wurden.(60) Es wurden darüber hinaus auch Emporenbrüstungen oder Kanzeln erneuert und dafür bisweilen neue Skulpturen gearbeitet, wie beispielsweise der Salvator mundi(61) als Abschluss des neugotischen Kanzeldeckels der Cyriakuskirche in Bönnigheim aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt. Erst mit Ausklang des 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert kommt es insofern zu einer neuen bauplastischen und freiplastischen Phase, als im Zuge der Neubauten nach dem „Eisenacher Regulativ“ oder den Jugendstilbauten diese auch komplett neu ausgestattet werden mussten. Dasselbe gilt übrigens auch für die nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen Kirchenbauten, die ebenfalls einer ihnen zeitgemäßen Einrichtung bedurften. 

3.1: Freiplastik

Bad Cannstatt, Lutherkirche, Lutherstatue

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 12105.1.013-00

Im Sinne der Schaffung von Skulpturen für tatsächliche Neubauten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zeigt beispielsweise die Lutherkirche in Bad Cannstatt auf der Nordseite zwischen Chor und Langschiff auf einem Sockel stehend die Standfigur Martin Luthers, die 1900 von Emil Kiemlen für die Kirche geschaffen wurde. Die von Frau Ottilie Umrath, geb. Köstlin gestiftete Standfigur(62) steht auf einem hohen, reich profilierten und mit Laub- und Akanthusfries gegliederten Sockel, über der eine hohe, ebenfalls profilierte Plinthe ruht. Die Figur Martin Luthers steht frontal ausgerichtet in Ponderation mit vorgestelltem rechtem Bein auf Sockel und Plinthe. Er hat die aufgeschlagene Bibel in seiner Linken und zeigt mit seiner Rechten auf eine Bibelstelle, über die er gerade nachsinnt, was einerseits durch seine seitliche Blickrichtung in die Ferne, andererseits aber auch durch die Physiognomie des Gesichtes mit tief liegenden Augen, leicht nach oben gezogenen Augenbrauen und geschlossenem Mund unterstrichen wird, wodurch seine Konzentration beim Nachdenken über das geschriebene Wort umso deutlicher hervorgehoben wird. Er ist mit Hemd und Talar bekleidet, dessen Rock tiefe Vertikalfalten und dessen lange Ärmelsäume tiefe gebrochene Schüsselfalten bilden. Die hohe Platzierung der Figur, die Strenge in ihrer Gestik und Mimik sowie die stark gefurchte Faltenbildung der Gewandung entrücken die Figur dem Betrachter, der sie aufgrund dieser Gestaltungsmerkmale vornehmlich als Darstellung eines strengen Gelehrten wahrnimmt. 

3.2: Kanzeln

Zu dieser Darstellung passen auch die figürlichen Reliefs der Kanzel, die Albert Bäckle 1898-1900 für die Lutherkirche in Bad Cannstatt schuf.(63) Der fünfseitige Kanzelkorb ist mit den Büsten von Paulus, Johannes und Petrus verziert, die ihrerseits jeweils von einer Rahmenarchitektur aus Kleeblattbögen auf Rundsäulen umgeben sind. Auch diese Figuren zeichnen sich durch eine strenge Lineatur in der Gestaltung der Physiognomie und der Faltengebung der Gewandungen aus und auch hier wird die Gestik der einzelnen Figuren insofern betont, als Petrus seinen Schlüssel mit seiner geballten linken Hand fest umschließt und seine Rechte auf seine Brust gelegt hat, während er seinen Kopf zu seiner rechten Seite wendet und in die Ferne blickt und Paulus ebenfalls den Griff seines Schwertes fest mit geballter Hand umgreift, während er die Linke geöffnet hat, so als nutze er sie zur Erklärung seines gesprochenen Wortes, das aus seinem geöffneten Mund zu kommen scheint.


Waiblingen, Korber Höhe. Kanzel

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 47127.1.005-00

Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts werden die Kompositionen der Kanzeln schlichter und nüchterner, wie anhand der Kanzel in der Johanneskirche in der Korber Höhe, ein Stadtteil von Waiblingen, deutlich aufgezeigt werden kann.(64) Die 1987/1988 von Rotraud Hofmann geschaffene Kanzel besteht aus zwei schalenförmigen Teilen aus Marmor, die ineinandergreifen, sich aber nicht überschneiden oder kreuzen, sondern sich lediglich einander anschmiegen. Zur Gemeinde hin ist die Form konvex gewölbt und damit geschlossen, zum Altarraum hin ist sie konkav geschwungen und damit geöffnet. 

3.3: Kruzifixe, Tisch- und Altarkreuze

Die stets wachsende Individualität in der künstlerischen Gestalt lässt sich sehr gut an der Darstellung der Kruzifixe ablesen, in denen der Leib Christi durch Abstraktion mehr und mehr in seiner seelischen Verfassung personifiziert bzw. gar nicht mehr zur Darstellung gelangt.

So zeigt beispielsweise das silberne, von Ernst Yelin 1958 entworfene und von Helmut Schauler ausgeführte Altarkreuz der Stiftskirche in Tübingen(65) am Schnittpunkt zwischen Stamm und Querbalken das einem Kreis einbeschriebene Agnus Dei mit Siegesfahne als Symbol für Christus und seine Auferstehung, die in der Reliefdarstellung zudem dadurch hervorgehoben wird, dass sich das Lamm mit seinem Kopf nach hinten zum Banner wendet. An den äußeren Abschlüssen von Stamm und Balken befinden sich, nun ohne rahmenden Kreis, die vier Evangelistensymbole, der Engel als Symbol für Matthäus oben, links der Stier für Lukas, rechts der Löwe für Markus und unten der Adler für Johannes. Insofern der auferstandene Christus in Gestalt des Lammes mit der Siegesfahne zusammen mit den Evangelistensymbolen erscheint, zeigt die Darstellung motivische Anklänge zur Maiestas Domini (die Herrlichkeit des Herrn), die im Allgemeinen so dargestellt wird, dass der auferstandene Christus, in der himmlischen Sphäre, umgeben von einer Mandorla und den Evangelistensymbolen, thronend sitzt und dabei mit erhobenen Händen seine Wundmale zeigt. Durch diesen motivischen Zusammenhang wird also inhaltlich die Auferstehung Christi mit der Herrlichkeit des Herrn in Verbindung gebracht und auf diese Weise die Auferstehung Christi in eine höhere Dimension gerückt.(66)


Fellbach, Lutherkirche. Tischkreuz

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 47331.1.003-00

Anstelle des Agnus Dei am Schnittpunkt zwischen Kreuzstamm und Querbalken tritt im Tischkreuz von Ingrid Seddig in der Fellbacher Lutherkirche von 1971 das Alpha und Omega als Symbol für Christi im Sinne von „der Erste und der Letzte“.(67) Die beiden Buchstaben sind einem Quadrat einbeschrieben, um welches sich vier Rechtecke mit den Evangelistensymbolen gruppieren. Die Rahmen sind durch Überschneidungen miteinander verkettet und in der Senkrechten hochrechteckig, in der Waagrechten hingegen querrechteckig geformt. Die Anordnung der Evangelistensymbole gleicht derjenigen im Werk Yelins, gänzlich verschieden ist indes die künstlerische Gestalt insofern, als nun das flache Relief durchbrochen ist, so dass man zwischen der jeweiligen Rahmenform und zwischen den die Evangelistensymbole umgebenden Formen hindurchblicken kann. Zudem sind nun hier alle Binnenformen vergoldet, wodurch die einzelnen Symbole gegenüber der jeweiligen Rahmenform noch umso deutlicher hervorgehoben werden.


Tübingen, Stiftskirche. Tischkreuz

Verein für christliche Kunst / Verein für Kirche und Kunst

Das 1964 von Ulrich Henn für die Stiftskirche St. Georg in Tübingen geschaffene Altarkreuz aus Bronze zeigt in 11 Einzelbildern die Stationen vom Leben Jesu Christi nach dem 2. Artikel des Glaubensbekenntnisses.(68) Alle Einzeldarstellungen sind von Ästen gerahmt, die sich wellenförmig in zwei Ranken um die Bilder schließen und diese kreisrund einrahmen. Eine Ausnahme bildet lediglich die Darstellung von Jesus Christus als Weltenrichter im Schnittpunkt zwischen Kreuzstamm und Querbalken, wo sich die Ranken zu einer den thronenden Christus umschließenden Mandorla formen. Hier erscheint Christus erheblich größer als in allen anderen Szenen, wodurch er zusätzlich der sich unterscheidenden Rahmenform an Bedeutung gewinnt. Unter dieser Darstellung befindet sich die Geburt Christi, links die Kreuzigung, rechts die Grablegung und darüber Christus im Himmel. An den Enden des Kreuzes sind unten der Engel mit Maria und Martha, links die Geißelung Christi und rechts die Auferstehung zu sehen. Alle diese Figuren sind sehr klein, schmal und dementsprechend äußerst filigran gearbeitet. Während die einzelnen Mimen der Figuren kaum auszumachen sind, spielen die Gesten und Gebärden der einzelnen Figuren eine umso wichtigere Rolle und lassen die jeweilige Bedeutung der einzelnen Szenerie sehr deutlich vor Augen treten.


Heilbronn, Auferstehungskirche. Kreuzigungsgruppe

Archiv des Vereins für christliche Kunst / Verein für Kirche und Kunst

Auch die von Karl Hemmeter Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts geschaffene Kreuzigungsgruppe für die Auferstehungskirche in Heilbronn(69) nimmt weniger den Tod als vielmehr das Leben Jesu Christi in den Blick. Obschon der Gekreuzigte sehr schmal ist und mit langen Armen und Beinen, einem langen Oberkörper und einem langgezogenen ovalen Kopf dargestellt ist, so als sei er leicht überstreckt ans Kreuz genagelt, befindet sich der Kopf von Christus nicht unterhalb des Schnittpunktes von Stamm und Querbalken, sondern darüber, so dass die Arme nicht nach unten, sondern nach oben durchgestreckt sind. Christus blickt auf die links unter ihm befindliche Maria herab und da er sich mit dem Kopf leicht nach vorne beugt, erzeugt diese Gebärde den Eindruck, als löse er sich schon leicht vom Kreuz, wodurch die Auferstehung schon im Tod mit eingeschlossen ist. Hinzu tritt, dass die Physiognomie des Gekreuzigten im Gegensatz zum Körper deutlich artikuliert ist, denn die Augenbrauen sind stark hochgezogen, die lange Nase steht im Kontrast zur vorgeschobenen und vorgewölbten Unterlippe, die deutlich erkennen lässt, dass er nun über das überwundene Leid erleichtert ist und hingebungsvoll zu seiner Mutter blickt. 


Tuttlingen, Auferstehungskirche. Kruzifix

Verein für christliche Kunst / Verein für Kirche und Kunst

Die Abstrahierung der Körperlichkeit, die in dem Werk von Karl Hemmeter auffällt, zeigt sich auch in dem 1966 von Roland Martin geschaffenen Bronzekruzifix in der Tuttlinger Auferstehungskirche.(70) Das lateinische, filigrane Kreuz zeichnet sich durch einen extrem breiten Querbalken aus, dessen Breite der Länge des Stammes entspricht. Der Gekreuzigte ist kaum breiter als der Stamm und damit außerordentlich dünn und die einzelnen Körperteile sind so lang durchgestreckt, dass sie als geradezu überstreckt erscheinen. Deshalb sind auch die Beine nicht über dem Knie, sondern über den Unterschenkeln gekreuzt. Der Körper besteht nur noch aus Haut und Knochen, so dass sich die Knochen des Brustkorbs deutlich unter der Haut hervorprägen, wodurch sich zwischen den Knochen tiefe Furchen bilden. Der ausgemergelte Körper ist auch daran erkennbar, dass die schon an sich sehr schmale Taille gegenüber dem Ober- und Unterkörper stark eingezogen ist. und allein der ein paar Schüsselfalten angedeutete Lendenschurz zeigt an, dass sich darunter Leiste, Genitalien und Gesäß befinden. Das gesenkte Haupt des Gekreuzigten verdeutlicht noch einmal mehr, dass es sich um einen Menschen handelt, der nach äußerst schwerem Leiden ans Kreuz genagelt und der durch das Strecken des Körpers am Kreuz noch in den letzten Zügen seines Lebens schwer gequält und misshandelt wurde und nach völliger Erschöpfung durch das erlebte Leid starb. Die der Körpergestalt innewohnende Expressivität in der Artikulation der Körperlichkeit und der Gebärde spricht für sich und es bedarf daher nicht mehr der künstlerischen Ausformung des Gesichts, auf die hier ganz bewusst verzichtet wurde.


Strümpfelbach, St. Judokus. Tischkreuz

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 470230.1.003-00

Auch das von Karl Ulrich Nuss 1972 für die Pfarrkirche St. Jodokus in Strümpfelbach geschaffene Tischkreuz zeichnet sich durch die Fragilität des Gekreuzigten aus.(71) Dieser ist einem breiten lateinischen Kreuz einbeschrieben und zwar insofern, als im Schnittpunkt zwischen Kreuzstamm und Querbalken ein Kreis ausgeschnitten ist, in den die Figur des Gekreuzigten eingepasst ist. Der äußerst schmale, grazil wirkende Christus ist nimbiert und überschneidet mit seinen ausgestreckten Armen und Beinen die Tangente des Kreises, während der Kopf die Tangente des Kreises berührt. Durch die Gestrecktheit des Körpers wird er selbst zum Kreuz und ersetzt dieses, das in der Tat schon fortgelassen ist. Trotz der Grazilität der Figur sind die einzelnen Knochen des Körpers und die Falten des Lendenschurzes deutlich artikuliert. Durch den Gegensatz zwischen schmal und breit sowie zwischen eckig und rund wird die Skulptur zu einem besonderen Erlebnis für den Betrachter, der zudem das Symbol des Kreuzes nicht nur in der Gestalt des Kreuzes per se, sondern auch in der Figur des Gekreuzigten und in seinem Nimbus wahrnimmt. Das Symbol des Kreuzes ist also in dreierlei Gestalt wiedergegeben, ein Gestaltungsprinzip, das den Gedanken an die Dreifaltigkeit mit in sich einschließt.


Winnenden, Schlosskirche. Tischkreuz

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 472241.1.005-02

Zehn Jahre später arbeitet auch Hans Gottfried von Stockhausen mit der ausgesparten Form. Sein Tischkreuz in der Schlosskirche St. Jakobus in Winnenden in Gestalt eines griechischen Kreuzes ist in den Binnenflächen mit Laubwerk gefüllt.(72) Im Schnittpunkt zwischen Stamm und Querbalken, im Zentrum des Kreuzes, ist eine Mandorla als ausgesparte Form ausgeschnitten, in die ein rundes Medaillon eingepasst ist. Dieses ist mit einem vorder- und einem rückseitigen Relief verziert, das auf der Vorderseite die Auferstehung und auf der Rückseite die Kreuzigung zeigt. Unter der Mandorla öffnet sich Wurzelwerk zu zwei Ästen, die ihrerseits ein Bergkristall als Symbol für das Gleichnis vom Senfkorn umschließen. Kreuzigung, Auferstehung und Senfkorn vermitteln die Heilsbotschaft von Jesus Christus, der durch den Tod zu neuem Leben gelangte und immer wieder neu Leben schenkt. 


Bernhausen, Johanneskirche. Altarkreuz

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 53001.2.008-00

Figurenlos indes bleibt das von Wolf-Dieter Kohler und Gottfried Wendschuh 1965 geschaffene Altarkreuz in der Johanneskirche zu Bernhausen.(73) Das Kreuz besteht aus Eisen und hat die Form eines griechischen Kreuzes. Stamm und Querbalken bestehen aus einer Eisenplatte, auf die in der Senkrechten sechs und in der Waagrechten fünf Metallleisten mit dazwischenliegenden tiefen Kerben aufgelegt sind. Im Kreuzungspunkt zwischen Stamm und Querbalken sind nur zwei der horizontalen Leisten über die senkrechten gelegt, bei den übrigen laufen die vertikalen Leisten durch und die horizontalen brechen ab. Allein durch die rückwärtige Wandbemalung wird das Kreuz belebt, in der Menschen dargestellt sind, die entweder paar- oder gruppenweise mit erstaunten Blicken und Gebärden auf das Kreuz blicken. 

3.4: Taufsteine und Taufbecken

Fellbach, Pauluskirche. Taufstein

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 47333.1.006-00

Dies zeigt sich an der Gestaltung der Taufsteine und Taufbecken, die in ihrem Formenreichtum zunehmend reduziert werden. So zeigt beispielsweise der von Wilhelm Jost 1926/1927 für die Fellbacher Pauluskirche entworfene, der Gesamtkonzeption des Innenraumes in den Formen des Jugendstils entsprechende Taufstein noch ein kompliziertes Gebilde, bestehend aus einer sechsseitigen Sockelplatte, dem Korpus, der Deckplatte und einem halbkugelförmigem Deckel.(74) Die Sockelplatte hat im Prinzip die Form eines Dreiecks mit abgeschnittenen Ecken, der Korpus strahlt von der Mitte der Sockelplatte ausgehend sechsförmig aus und öffnet sich nach oben hin zu einem regelmäßigen Sechseck, auf dem eine sechseckige Deckplatte aufliegt. Den schmalen Seiten der Sockelplatte sind ebenso wie beim Altar drei kniende betende Engel aus Terrakotta mit gesenkten Häuptern vorgelagert, die gleichsam als Stütze des Korpus fungieren. Die Deckplatte ist zweifach gestuft. In der Mitte befindet sich eine kreisförmige Einwölbung zum Einstellen einer Schale, die äußere Abstufung ist ebenfalls kreisförmig, jedoch flach gehalten und dient dem Aufsetzen des gewölbten Kupferdeckels. Dessen Oberseite ist vergoldet und durch sechs Bänder in sechs offene dreieckförmige Felder eingeteilt, die mit den christlichen Symbolen Adler, Christusmonogramm, Agnus Dei, Rebe mit Weinlaub, zwei Fischen und Kreuz gefüllt sind. Alle Symbole sind jeweils einem rahmendem Kreis einbeschrieben. Die oberen Zwickel bieten Raum für paarweise einander zugeordneten Öffnungen, die den Blick zum Scheitel des Halbkreisbogens führen, der von einem lateinischen Kreuz bekrönt wird. 


Fellbach, Melanchthonkirche. Taufstein

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation. Inv.-Nr. 47333.1.006-00

Demgegenüber zeigt der Taufstein der Fellbacher Melanchthonkirche von 1962/1964 eine gänzlich schlichte, wiederum der Gestalt des Innenraumes entsprechend nüchterne Form, allein bestehend aus einem sehr hohen zylinderförmigen Sockel aus Sichtbeton, der mit einer umlaufenden Kerbe schließt.(75) Darüber erhebt sich der Korpus aus schwarzem Marmor, der nur ein Drittel der Höhe des Sockels, aber denselben Radius wie der Sockel aufweist. Die Oberseite des Korpus ist zum Einstellen einer Taufschale eingetieft. Diese besteht aus Kupfer und ist rund und ohne jegliche Zierformen gearbeitet. Allein der trichterförmig nach oben zugespitzte Deckel wird von einem Fisch aus Bronze als Symbol für Christus bekrönt. Wenn man die Schale mit Deckel in die Vertiefung des Taufsteins stellt, ist lediglich der Deckel zu erkennen, der quasi als Bekrönung des Taufsteins fungiert, so dass der Betrachter, der den Taufstein in Augenschein nimmt, zunächst den Fisch wahrnimmt.

So fällt ebenso wie anhand der Betrachtung der Kruzifixe und Tischkreuze auch an den Taufsteinen auf, dass die Tendenz zur Reduktion im Verlauf des 21. Jahrhunderts zugunsten einer gesteigerten Ausdruckskraft immer mehr zunimmt.

3.5: Portale

Bad Cannstatt, Stadtkirche. Westportal

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Invenstarisation, Inv.-Nr. 12101.1.041-02

Ferner sei auch ein Blick auf die Verzierung der Portale geworfen, die im 19. Jahrhundert noch sehr traditionell als Rundbogen- oder Spitzbogenportale ausgeführt wurden, dann eine Rahmenform in Gestalt von Säulen mit bekrönendem Tympanon erhielten, das dann meist mit einem Relief ausgeschmückt wurde. Erst im Verlauf des 20. Jahrhundert ändert sich die Gestalt der Portale, die Rahmenform ist oft fortgelassen, dafür ist aber die Portalfläche selbst figürlich gestaltet. Dies wird zunehmend auch auf Portale von mittelalterlichen Kirchen übertragen, wie man beispielsweise anhand des Westportals der Stadtkirche in Bad Cannstatt, das 1962 von Gottfried Henn mit einem Bronzeguss verziert wurde, deutlich sehen kann.(76) Das zweiflügelige hochrechteckige Westportal zeigt das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, das in Matth. 20, Vers 1-16 berichtet wird. In diesem Gleichnis wird das Reich Gottes mit einem Hausherrn verglichen, der Tag für Tag zur Versorgung seines Weinbergs Arbeiter für einen Lohn eines Denars einstellt. Der Weinbergbesitzer geht alle drei Stunden auf den Marktplatz, um neue Arbeiter anzuwerben, die am Ende des Tages alle, egal, wie lange sie gearbeitet haben, einen Denar als Lohn bekommen. Die Arbeiter empfinden das als ungerecht und beschweren sich, doch der Weinbergbesitzer lässt sich nicht beirren, denn er vertritt die Ansicht, dass sie doch für die Arbeit zu einem Denar zugestimmt hätten.

Die zweiflügelige Bronzetür besteht aus insgesamt fünf Bronzeplatten, wobei die linke Türhälfte drei und die rechte zwei übereinander angeordnete Bronzeplatten zählt. Die Illustration des Gleichnisses verteilt sich auf drei Bronzeplatten mit jeweils einer Figurengruppe, nämlich links zwei und rechts oben eine. Alle Figuren sind im Hochrelief ausgeführt. Während die Figurengruppe links unten die Arbeiter im Weinberg zeigt, geht es in der darüber liegenden Darstellung schon um das Werben von Arbeitern für den Aufstand gegen den Herrn, denn links oben steht eine Figur, die seine Linke erhoben hat und mit seiner Rechten auf das unter ihm stehende Figurenpaar weist, das seinerseits bereits die Fäuste geballt hat und entschlossen zu seinem Anführer aufschaut. Ein weiterer Mann, der noch die Hacke in seinen Händen hält, blickt zu ihm auf, während ein anderer sich zunächst noch unentschlossen von ihm abwendet. Rechts oben sieht man nun die vor dem Weinbergbesitzer versammelten Arbeiter, die zusammengekommen sind, um dem Herrn seine Ungerechtigkeit vorzuwerfen, ihm zu spotten und für ihre Gerechtigkeit zu kämpfen, dargestellt durch die wütenden Gebärden, Gesten und Minen der Figuren, die ihre Hände zu Fäusten geballt haben oder auf ihn zeigen, ihre Arme ausstrecken oder ihm ihre Fäuste entgegenstrecken und ihn mit weit aufgerissenen Mündern anschreien. Der Besitzer hingegen, der im Gegensatz zu den unbekleideten Arbeitern mit Mantel und Hut auf einem Podest steht, hat seine Hände über Kreuz gelegt und blickt mit leicht gesenktem Haupt ruhig und etwas mitleidig auf die aufgebrachte Menge herab. Die Darstellung, in der die einzelnen Figuren rein linear aufgefasst und auf die wesentlichen Merkmale reduziert sind, lebt allein durch die Gebärden und Gesten, unterstützt durch wenige Gesichtszüge, die in flüchtigen Ritzungen angedeutet sind. Es kommt also weniger auf eine realistische Darstellung als vielmehr auf die den Szenerien innewohnende Dramatik und Expressivität an, um den Betrachter in die Darstellung einzubeziehen, ihn für das Empfinden der einzelnen Figuren einzunehmen und auf diese Weise die Darstellung lebendig werden zu lassen. Die Stärke des künstlerischen Schaffens liegt also in der Reduktion der Form und in der Steigerung der Ausdruckskraft in den Gebärden und Gesten. 

4: Malerei

In der Malerei sind im 19. und 20. Jahrhundert vornehmlich die Ausschmückungen der Kirchenneubauten von Bedeutung. Sowohl Christian Friedrich von Leins als auch Heinrich Dolmetsch lieferten für die von ihnen entworfenen Kirchen auch die Entwürfe für die Ausmalung von Wänden, Decken, Fenstergewänden, Emporenbrüstungen oder Fußböden, um den Bauten einen möglichst einheitlichen Charakter zu geben, obschon sie dann verschiedene Künstler zur Ausführung der Pläne engagierten. Mit Entstehung der sog. Gemeindekirchen im Verlauf des 20. Jahrhunderts und der zunehmenden Reduktion des kirchlichen Schmucks gewann dann zunehmend die Glasmalerei an Bedeutung, die bisweilen zum einzigen Farbelement im Kirchenraum wird.

4.1: Decken- und Wandmalerei

Chorgewölbe der Bonifatius-Kirche in Oberrot

Mit freundlicher Genehmigung der Kirchengemeinde Oberrot

Die Deckenbemalungen nach den Entwürfen von Heinrich Dolmetsch weisen eine Vielzahl an Ornamenten und Motiven mit Lilien, Blüten oder Rosetten, Teppichmustern und Quadern, allegorischen Motiven, Bibelversen und Psalmen, wie beispielsweise in der evang. Kirche in Beuren, wo Dolmetsch 1904 an den senkrechten Bereichen der gesprengten Decke auf der Nord- und Südseite Inschriften anbringen ließ.(77) Die verschiedenen Ornamente wurden meist in Friesbändern, und zwar in der Technik der Schablonenmalerei aufgetragen, um der Gleichförmigkeit der Ornamente Rechnung tragen zu können. Die friesartige vegetabile Ornamentmalerei zeigt sich neben Beuren und Uhlbach auch beispielsweise in der evang. Kirche in Bad Herrenalb, wo die Decke des Kirchenschiffs nicht spitz, sondern kleeblattförmig gesprengt ist und sich hier ein mittleres Fries durch das gesamte Kirchenschiff zieht.(78) Figürliche Elemente wie in der Andreaskirche in Uhlbach kommen auch in der evang. Kirche in Oberrot vor, für die Heinrich Dolmetsch 1887/1888 auch die Malerei für das Tonnengewölbe im Turmchor entwarf.(79) Das Figurenprogramm nimmt in Gleichnissen Bezug auf das Jüngste Gericht und zeigt auf der Nordseite von Osten nach Westen einen Schnitter, Christus als Weingärtner und den Sämann. Auf der gegenüberliegenden Seite sind Schafböcke unter einer Palme, die Scheidung der Böcke von den Schafen und der Widder unter dem Paradiesbaum zu sehen.(80)

Auch die Wände, und hier vornehmlich die Gewände der Fenster sowie der Arkaden- und Chorbögen, wurden mit ornamentalen und vegetabilen Friesen in der Technik der Schablonenmalerei versehen, während man die Wände über den Chorbögen mit ikonographischen Darstellungen wie beispielsweise des thronenden, von vier Engeln umgebenen Christus in der Mandorla in der evang. Kirche in Bad Urach, ausschmückte.(81)  

4.2: Glasmalerei

Bei den Neu- und Umbauten des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde die künstlerische Gestaltung der Fenster in Bezug zur Umgebung des Innenraumes gesetzt, wobei figürliche Darstellungen meist nur für den Chor geschaffen wurden, um erstens den Chor gegenüber dem Langschiff zu betonen, zweitens dem bereits vorhandenen figürlichen Schmuck im Langhaus nicht die Wirkung zu nehmen und drittens zu gewährleisten, dass genügend Licht durch die Seitenschifffenster in das Kirchenschiff dringen kann.(82) So entwarf beispielsweise Gustav van Treeck 1897/1898 für die von Heinrich Dolmetsch in diesen Jahren erweiterte evang. Kirche in Schramberg das Ostfenster im Chor, ein fünfteiliges, spitzbogig schließendes Maßwerkfenster, wobei jeweils zwei Lanzetten von einem Okulus überfangen werden, die ihrerseits von dem äußeren Spitzbogen umfasst werden.(83) Im Couronnement befindet sich über dem Mittelfenster ein stehender Vierpass, während über den jeweils zwei seitlich begleitenden Lanzetten ein Okulus liegt. Die Darstellung der Bergpredigt, für die man sich als Thema für das Ostfenster entschied, erstreckt sich über die gesamte Breite der fünf Fensterbahnen, sich erhebend über einen biblischen Spruch und bekrönt von Stadttoren, die möglicherweise das himmlische Jerusalem symbolisieren.(84) Christus ist predigend mit ausgebreiteten Armen dargestellt, umringt von einer Menschenmenge, die teils in antikisierenden Gewändern und teils in zeitgenössischer Tracht gezeigt wird. Die Frauen und Mädchen im Vordergrund tragen bäuerliche Kleidung mit langen Röcken und Schürzen, ein Mädchen am rechten Bildrand trägt den aus dem Schwarzwald bekannten „Bollenhut“. Der stehende Vierpass zeigt das Alpha und Omega als Symbol für Christus. So wird Christus auf verschiedenen Ebenen gezeigt und in jeder Ebene erhöht. Die Fenster der Seitenschiffe wurden oftmals ornamental und floral, und zwar in Gestalt von lichtdurchlässigen Grisailmustern verziert, so beispielsweise in der Reutlinger Marienkirche oder in der evang. Kirche in Hohenmemmingen, die ebenfalls beide Ende des 19. Jahrhunderts von Heinrich Dolmetsch restauriert wurden.(85)


Gutenberg, Nikolauskirche. Chorfenster

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 25012.1.006-00

Die Darstellung des Predigens durch die ausgebreiteten Hände ist in diesem Glasfenster dominierend. Es kommt also auf die Wirkung der Geste an und genau dieses Gestaltungselement sollte im 20. Jahrhundert wesentlich werden, denn nun wurden die Figuren zur Betonung einer bestimmten Szene innewohnenden Dramatik zunehmend abstrahiert und auf die wesentlichen Gebärden und Gesten reduziert. Zudem zeigt sich die Tendenz, nicht mehr das gesamte Fenster mit figürlicher Glasmalerei auszustatten, sondern nur in Teilen. So zeigt beispielsweise das Chorfenster der Nikolauskirche in Gutenberg, ein dreiteiliges Maßwerkfenster mit zwei Dreipässen und einem liegenden Fünfpass im Couronnement, für das 1934 Walter Kohler, Jahn und Gaisser den Entwurf für die Verglasung lieferten, in welchem in lediglich sechs der insgesamt 15 Felder die Geburt Jesu, die Taufe Jesu, Jesus und die Samariterin, die Heilige Familie an der Krippe, Christus als Weltenrichter und ein Engel dargestellt sind, während die übrigen Felder mit kleinen farbigen Quadraten gefüllt sind.(86)


Bernhausen, Johanneskirche. Fenster der Westwand. Kain schlägt Abel tot

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Inventarisation, Inv.-Nr. 53001.2.004-01 - 53001.2.004-7

Ferner zeigt die Westwand der Johanneskirche in Bernhausen einen von Walter Kohler 1955 gestalteten Fensterbildzyklus, der in acht verschiedenen Darstellungen die Unheilsgeschichte der Menschheit und die Heilsgeschichte Jesu Christi zum Thema hat.(87) Jedes hochrechteckige Fenster ist dabei in 25 hochrechteckige Felder mit Bleiverglasung unterteilt. Die figürliche Darstellung bezieht sich im Wesentlichen nur auf bestimmte Felder des jeweiligen Glasfensters, keinesfalls jedoch auf alle. Bei der ersten Illustration des Zyklus mit Darstellung vom Brudermord Kains liegt Abel leblos auf dem Boden, während Kain mit der Axt in der Hand vor ihm wegläuft, sich aber noch erschrocken nach ihm umsieht. Die Szene ist gänzlich auf die Gebärden und Gesten der beiden Figuren reduziert, denn ein Hintergrund ist lediglich hinter Abel in Gestalt eines braunen Fußbodens angedeutet, ansonsten wird auf die Ausgestaltung des Bildvorder- und -hintergrundes vollkommen verzichtet.


Erkenbrechtsweiler, evang. Pfarrkirche. Chorfenster

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 25011.1.004-00 - 25001.1.004-02

Die Dramaturgie der Gebärden und Gesten zeigt sich auch in den von Valentin Saile 1954 gestalteten Chorfenstern der Pfarrkirche in Erkenbrechtsweiler, die segmentbogenförmig schließen und in sechs bzw. acht, jeweils paarweise angeordneten Feldern aus farbigem Glas Darstellungen mit biblischen Geschichten und Szenen aus dem Leben Jesu zeigen.(88) Die Szenen spielen sich alle vor blauem Hintergrund ab, wodurch die Figuren mit roten, grünen oder ockerfarbenen Gewändern, die meist in Gruppen angeordnet sind und sich mal die Hände reichen, sich mal nach vorn oder nach hinten beugen, deutlich hervortreten.


Fellbach, Melanchthonkirche. Lichtstreifen im Innenraum

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 47332.1.011-00

Eine gänzlich davon differierende Auffassung von Glasmalerei bzw. Kunstverglasung zeigen die nach dem zweiten Weltkrieg errichteten Kirchen, die nun nicht mehr notwendigerweise durch herkömmliche Fenster, sondern durch Lichtstreifen beleuchtet werden, wie es beispielsweise die Melanchthonkirche in Fellbach zeigt, die 1962/1964 nach den Entwürfen von Anneliese Paulus mit farbigen Lichtstreifen ausgestattet wurde.(89) Die farbigen Lichtstreifen des Kircheninneren verlaufen auf der Nord- und Südseite entsprechend des Giebels dreieckförmig, auf den Langseiten horizontal. Sie sind in ihrer Farbgebung auf den Altar hin ausgerichtet und weisen somit dort die hellsten Farben auf. Während das Lichtband der Nordseite in Grauweiß gehalten ist, dominiert in den horizontalen Lichtstreifen die Farbe Blau in verschiedenen Schattierungen, unterbrochen von Rot, Gelb und Weiß. Die Südseite, also die Altarseite, zeigt von unten nach oben ansteigend die Farben Blau, Rot und Gelb in wiederum verschiedenen Farbnuancen. Die oberste Spitze erstrahlt in hellem Gelb und suggeriert dadurch die Vorstellung, als erschiene der Heilige Geist über dem Altar und somit über allen, die dem Gottesdienst beiwohnen.


Bietigheim, Pauluskirche. Lichtstreifen im Innenraum

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 05205.1.0175-00 u. 05205.1.0183-00

Ein solcher Lichtstreifen zeigt beispielsweise auch die von Walter Ruff 1966/1968 errichtete Pauluskirche in Bietigheim, die zudem noch mit gelben Lichtstreifen an den Kirchenwänden ausgestattet ist, um auf diese Weise im Innenraum bestimmte Lichtakzente zu setzen und diesen auf diese Weise optisch zu beleben.(90) 

5: ZUSAMMENFASSUNG

Das Frühe Christentum, das Mittelalter, die Frühe Neuzeit und die Moderne stehen insofern in enger Verbindung miteinander, als in jeder Epoche die Homogenität von Architektur und bildender Kunst von zentraler Bedeutung war. Erst mit Beginn der Frühen Neuzeit trennte sich allmählich der Architekt vom Baumeister, der Baumeister vom Künstler, der Bildhauer vom Maler oder der Drucker vom Formschneider, und trotz dieser zunehmenden Individualisierung findet man in jeder Epoche Architekten, die nicht allein das Kirchengebäude geplant haben, sondern zudem auch die einzelnen Ausstattungsstücke, und zwar nicht allein bezogen auf deren jeweiligen Standort, sondern auch auf deren jeweilige Form.(91) Der stilistische Bezug zwischen architektonischer Gestalt eines Kirchenbaues und seiner Ausstattung diente und dient vornehmlich dazu, dem Kirchenbau eine klare und einheitliche Formensprache zu geben, und zwar mit dem Ziel, die Menschen durch die Klarheit der Form zur Ruhe kommen, sie in Kontakt zu Gott treten und sie in Beziehung zu ihm treten zu lassen. Selbst bei der Erneuerung von Ausstattungsstücken in historischen Kirchenräumen wurde und wird, wenn man auf die historische Bausubstanz und die vorhandene historische Ausstattung Wert legt, darauf geachtet, dass die neuen Ausstattungsstücke in Beziehung zu den alten stehen und diese in ihrer Wirkung nicht schmälern.

 

Aktualisiert am: 26.01.2015