Reutlingen

Die Reichsstadt Reutlingen führte unter dem Einfluss bedeutender Reformatoren die Reformation bereits im Jahr 1524 ein und war damit dem benachbarten Württemberg ein Jahrzehnt voraus.

Reutlingen

Von: Deigendesch, Roland

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Vorreformatorische Kirchengeschichte
  2. 2: Reformation
  3. 3: Matthäus Alber (1495-1570)
  4. 4: Standhaftes Eintreten für die Reformation
  5. 5: Reutlingen im konfessionellen Zeitalter
  6. 6: 19.-20. Jahrhundert
  7. 7: Kirche im Nationalsozialismus
  8. 8: Die Kirche wächst
  9. Anhang
  • Landkreis Reutlingen, Orte: Reutlingen, Betzingen, Bronnweiler, Gomaringen, Ohmenhausen, Wannweil
  • Hauptort: Reutlingen
  • Evangelisch seit 1524
  • Teil der Landeskirche seit 1802
  • Besonderheiten: Marienkirche, Reformator Matthäus Alber, Gustav Werner, BruderhausDiakonie

1: Vorreformatorische Kirchengeschichte

Stadtansicht von Reutlingen - Merian, Topographia Sueviae, 1643

Reutlingen liegt im Vorland der mittleren Schwäbischen Alb im Tal der Echaz. In diesem alt besiedelten Raum entwickelte sich Reutlingen im Lauf des 11.-12. Jahrhunderts unter dem Schutz der Burg Achalm zur beherrschenden Siedlung und lief damit dem ehedem bedeutenderen Pfullingen mit seiner alten Martinskirche den Rang ab. Wie bei einer Reihe von Stadtgründungen des hohen und späten Mittelalters lag die Pfarrkirche außerhalb der Stadtmauern. Diese Kirche St. Peter in den Weiden befand sich an der Stelle des heutigen Friedhofs Unter den Linden, wohl am Ort einer älteren, vorstädtische Siedlung. Die Bedeutung der erst 1270 in den Schriftquellen erscheinenden Kirche zeigt ihre Mittelpunktsfunktion innerhalb des Archidiakonats circa Alpes. Das nach Reutlingen benannte und im 14. Jahrhundert von Urach abgetrennten Dekanat Reutlingen reichte in einem schmalen Streifen von Walddorf im Norden bis Großengstingen auf der Alb im Süden. Filialkirchen von St. Peter lagen in Degerschlacht und Sickenhausen. Weithin singulär ist die 1351 erfolgte Massenweihe von nicht weniger als 48 Priestern, 79 Diakonen und Subdiakonen sowie 229 Akoluthen in dieser Kirche.

Den Rang einer Reichsstadt verdankte Reutlingen den Staufern, denen die Stadt dann 1247 im Krieg gegen die Bundesgenossen des Gegenkönigs Heinrich Raspe die Treue hielt. Durchaus glaubhafte chronikalische Nachrichten berichten vom Gelübde der Reutlinger, nach überstandener Belagerung eine der Gottesmutter geweihte Kirche in ihren Mauern zu errichten. Die wohl damals schon begonnene und 1340 fertiggestellte Marienkirche, kirchenrechtlich im Rang einer capella, zählt zu den wichtigsten Bauwerke der Gotik in Schwaben und belegt eindrücklich den Wohlstand des aufstrebenden Gemeinwesens. Die Errichtung von Kanzel (1495 erwähnt) und Taufstein (1391 erwähnt, heutiges, kunstgeschichtlich bedeutendes Stück von 1499) zeigen das Bemühen von Bürgerschaft und Rat, Kompetenzen der Pfarrkirche innerhalb der Stadtmauern heranzuziehen.

Die Stadt verfügte über eine Reihe weiterer kirchlicher Einrichtungen in seinen Mauern, die auf verschiedenen Wegen über die Stadtgrenzen hinaus wirkten. Noch in der Mitte des 13. Jahrhunderts entstand das Franziskanerkloster als einziges Männerkloster in der Stadt. Die Bedeutung dieses Hauses wird durch eine Provinzialversammlung des Ordens 1279 in Reutlingen und durch enge Verbindungen zum schwäbischen Adel deutlich, der zuweilen den Guardian genannten Vorsteher des Hauses stellte. Das Reutlinger Ordenshaus war überdies für das Klarissenkloster in Pfullingen verantwortlich. Die als Grundherren in der Region bedeutsamen Klöster Bebenhausen, Königsbronn, Marchtal, Salem und Zwiefalten verfügten über Klosterhöfe, teilweise mit eigenen Kapellenbauten.

Am Ende des Mittelalters entstanden zeittypische Sammlungshäuser der religiösen Frauenbewegung. Häufig in den Quellen genannt wird Terziarinnensammlung „In (auch Von) der Rast“, der zeitweise ein Mitglied der Reutlinger Familie Spechtshart vorstand. Von den spätmittelalterlichen Kapellen existiert lediglich noch die 1358 erbaute Nikolauskapelle, während die Johannes und Leonhard geweihten Häuser ebenso untergegangen sind wie die beim Leprosenhaus gelegene Katharinenkapelle vor der Stadt. Das sehr wohlhabende Hl.-Geist-Spital trug zur Schaffung eines reichsstädtischen Territoriums bei und verfügte am Ende des Mittelalters über die Kirchenpatronate in Gomaringen und Wannweil. Nicht das Spital, sondern das Reutlinger Sondersiechenhaus gelangte 1360 in den Besitz des Patronats der Johannes dem Täufer geweihten Kirche zu (Unter-) Hausen, das zuvor im Besitz des Reutlinger Geistlichen, Musiktheoretikers und Chronisten Hugo Spechtshart (+ um 1360) war.

Eine Lateinschule ist in Reutlingen im 13. Jahrhundert nachgewiesen.

Als weitere Religionsgruppe ist seit dem späten 13. Jahrhundert eine jüdische Gemeinde belegt, die über eine Synagoge unweit des Marktplatzes verfügte. Nach ihrer Vernichtung in den Pestpogromen 1348/49 kam es im 14.-15. Jahrhundert erneut zu einzelnen Ansiedlungen, die durch die üblichen Judenverbote zu Beginn des 16. Jahrhunderts ihr Ende fanden.

Auf dem bis zum 15. Jahrhundert geschaffenen Territorium der Reichsstadt befanden sich weitere Pfarrkirchen: St. Mauritius in Betzingen mit Patronatsherrschaft der Johanniterkommende zu Hemmendorf, Maria in Bronnweiler und in Gomaringen sowie die wohl sehr alte Kirche St. Johannes Baptista in Wannweil, deren Patronat noch im 14. Jahrhundert beim Bischof von Konstanz lag und später vom Reutlinger Spital lehensweise erworben wurde.

2: Reformation

Für den bemerkenswerten Verlauf der im Vergleich zum württembergischen Nachbarn und auch zu anderen Territorien im Südwesten frühen Reformation in Reutlingen sind die inneren und äußeren kirchlichen und politischen Verhältnisse der Stadt um 1500 von entscheidender Bedeutung. Einmal ist das Bestreben des städtischen Rates unverkennbar, die Patronatsrechte in die eigene Hand zu bekommen und damit Einfluss auf Gottesdienst und Seelsorge zu gewinnen. Über die Besetzung der Pfarrkirchenpfründe St. Peter verfügte seit 1303 der Abt des Zisterzienserklosters Königsbronn. Die durch spätere Stiftungen entstandenen weiteren Altarpfründen hingegen konnten von der Stadt bzw. durch Familien der reichsstädtischen Oberschicht besetzt werden. Mit diesen Rechten ging die Verfügung über beträchtliche Einkünfte einher, allein die Pfarrpfründe erbrachte rund 150 Gulden jährlich. Interessenkonflikte zwischen Abt, Bischof und Stadt waren vorprogrammiert. Hinzu kamen unübersehbare Missstände bei der Amtsführung einzelner von Königsbronn eingesetzter Geistlicher. 1514, in politisch ohnedies turbulenter Zeit, erhoben sich Klagen darüber, dass Gottesdienste nicht gehalten und Messen nicht gelesen wurden. Die politische Lage war durch ein komplexes Gefüge im Gefolge der Vertreibung Herzog Ulrichs von Württemberg geprägt. Nach dem Überfall Ulrichs auf Reutlingen 1519 war die Stadt von Truppen des Schwäbischen Bundes befreit worden, der dann auch das Regiment in dem Reutlingen umgebenden Herzogtum übernahm.

Zahlreiche kirchliche und wohltätige Stiftungen verweisen schließlich auf eine Intensivierung der Frömmigkeit breiter Schichten im ausgehenden Mittelalter. Bislang noch wenig erforschte Einzelbelege verdeutlichen die Sorge um Verkündigung und Schriftauslegung. Die Buchschenkung des Kaplans Georg Schütz an die Reutlinger Zwölfbrüderstiftung von 1506 (Stadtbibliothek Reutlingen, Inc. 132) verweist stellvertretend auf die Bruderschaftsbewegung als ein Element spätmittelalterlicher Frömmigkeit in der Stadt.

Reutlingen zählt zu den frühesten Druckorten im Südwesten. Zahlreiche theologische Schriften wurden hier gedruckt, darunter auch solche von Lehrern der 1477 gegründeten Universität Tübingen. Die Söhne der Stadt sind an den mitteleuropäischen Universitäten nachweisbar, und so verwundert es nicht, dass vertiefte theologische Bildung immer mehr von den eigenen Geistlichen erwartet wurde. Kennzeichnend ist das Testament des Reutlinger Kaplans Johannes Stünder von 1498, der sein Haus in Nachbarsch von Marienkirche und „Liberei“ für eine noch zu schaffende Prädikatur eines universitär gebildeten Predigers bestimmte. Die dann erst 1521 für den Reutlinger Matthäus Alber errichtete Prädikatur wurde mit der Pfründe und den verbliebenen Büchern eben jenes Kaplans Georg Schütz versehen, den Alber in seiner Jugend schon gehört hatte und der als recht kritischer Geist galt.

3: Matthäus Alber (1495-1570)

Matthäus Alber: Ausschnitt aus dem Epitaph in der Stadtkirche Blaubeuren, 1570

Matthäus Alber gilt mit Fug und Recht als die überragende Gestalt der Reformation in Reutlingen. Er entstammte einer alten reichsstädtischen Handwerkerfamilie und erfuhr nach dem Besuch der Lateinschule seine erste theologische Prägung in Tübingen. Dort lernte er Melanchthon kennen, den er später als seinen Lehrer bezeichnete. 1520 wechselte Alber nach Freiburg. Spätestens dort hat er sich mit den Schriften Luthers befasst. Nach seiner Berufung auf die neu eingerichtete Prädikatur in seiner Vaterstadt im November dieses Jahres verkündete er Kernelemente der Lehre des Wittenberger Reformators, dessen Abendmahlsauffassung er in Disputationen verteidigte. Dies blieb auch in den Nachbarorten nicht lange verborgen. Die Folge waren Interventionen seitens des Bischofs und der vorderösterreichischen Regierung gegen den Reutlinger Prädikanten. Indessen überschlugen sich die Entwicklungen in der Stadt, die im sog. Markteid vom Mai 1524 einen ersten Höhepunkt fanden. Die wegen eines Brandfalls auf dem Marktplatz zusammengerufene Bürgerschaft verpflichteten damals Bürgermeister und Rat, der unter dem Verdacht stand, äußerem Druck nachzugeben, „bei dem Gotteswort zu bleiben“ und sich so auf die von Alber verkündete Lehre festzulegen. Wenig später folgte auch ein Wechsel im städtischen Regiment, das mit dem Bäcker Jos Weiß einen klaren Befürworter der Reformation aus den Reihen der Zunftbürger an seiner Spitze hatte. Die erste deutsche Messe feierte Alber am 14. August 1524. Das Ereignis war eine Woche zuvor angekündigt worden und verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den benachbarten württembergischen Ämtern. Die Kirche vermochte die von weither angereisten Besucher nicht zu fassen.

4: Standhaftes Eintreten für die Reformation

Die Reaktion der altgläubigen Umgebung stand unter dem Eindruck eines verschärften Vorgehens des Kaisers gegen die reformatorische Bewegung im Reich. Matthäus Alber wurde vor Vertretern des Reichsregiments nach Esslingen geladen. Das zuweilen auch als „schwäbisches Worms“ bezeichnete Ereignis im Januar 1525 brachte seine theologischen Anschauungen an den Tag. In enger Anlehnung an die Vorstellungen Luthers wurde der Rückbezug auf die Schrift und die Rolle des Glaubens, des Gottvertrauens hinsichtlich der eigenen Sündhaftigkeit als Grundfesten der neuen Lehre angeführt. Dem klaren Bekenntnis folgte eine überraschend verhaltene Reaktion der in Esslingen anwesenden Räte. So konnte sich Alber nun konsequent der organisatorischen Verfestigung der Reformation widmen. 1526 berichtete er dem Abt von Königsbronn als Patronatsherrn über seine Gottsdienstordnung, zu der von Luther ein positives Votum eingegangen war. Eine Kirchenordnung entstand um 1531. Das reichsstädtische Kirchenregiment lag danach bei einem Senatus ecclesiae, der sich aus Vertretern des Rates, der Gemeinde und der Geistlichkeit zusammensetzte. Das zwölfköpfige Gremium hatte die Aufsicht über Seelsorge, Armenfürsorge und das Schulwesen. Auch die Visitation kam diesem örtlichen Kirchenrat zu, der zudem als Sittengericht wirkte. Die Geistlichen der Stadt und der reichsstädtischen Dörfer sollten regelmäßig zu Synoden zusammenkommen. Konsequenterweise brachte der Magistrat 1533 das Patronat über die städtischen Kirchen vom Kloster Königsbronn in die eigene Gewalt. Die Sammlungshäuser und das Franziskanerklosters wurden 1535 aufgehoben, Konventsgebäude und Kirche der Minoriten zur Gänze abgebrochen. An seiner Stelle entstand das Neue Spital (heute: Friedrich-List-Gymnasium).

Die Einführung der Reformation auch in Württemberg 1534 bahnte den Weg zur Wiedererrichtung des Ruralkapitels Reutlingen (1556), in dem die Geistlichen aus württembergischen und reichsstädtischen Orten zusammengeschlossen waren. Dies beförderte die ohnedies schon vorhandene Tendenz, das kirchliche Leben der Reichsstadt an die württembergische Praxis anzugleichen.

Die Verfestigung der Reformation in Reutlingen ging wie vielerorts mit der Abgrenzung gegenüber anderen Bewegungen einher. Im Bauernkrieg, der auch die Region um Reutlingen verunsicherte, lehnte Alber eine Unterstützung des Aufruhrs gegen die weltliche Obrigkeit ab. Ein Mandat gegen die Täufer 1528 belegt die Unterdrückung dieser Bewegung, die anscheinend in der Reichsstadt Fuß gefasst hatte.

Chronikalische Quellen berichten von Zerstörungen kirchlicher Kunstwerke 1531. Doch hat dieser „Bildersturm“ nicht völlig tabula rasa gemacht. Neben den bedeutenden plastischen Werken der Marienkirche, Hl. Grab und Taufstein, haben sich vereinzelt Kunstwerke erhalten, die den Reutlinger Kirchen zugeordnet werden können. Stärker betroffen waren die alte Pfarrkirche St. Peter und die weiteren Kapellen, die gänzlich von der Bildfläche verschwanden.

Den erreichten Stand galt es nicht nur nach innen, sondern auch nach außen zu bewahren. Die frühe Phase der Reformation Reutlingens war durch die Nachbarschaft zum habsburgisch beherrschten Herzogtum Württemberg geprägt. Die vorderösterreichische Regierung und ihre Statthalter in Stuttgart hatten hinlänglich klar gemacht, dass sie gewillt waren, abweichende religiöse Bewegungen zu verfolgen. Dennoch, und wie gesehen nicht zuletzt auf Druck der eigenen Bevölkerung, blieb die städtische Obrigkeit standhaft und reihte sich in die Gruppe jener Reichsstädte und Fürsten ein, die 1529 auf dem Reichstag zu Speyer gegen den Versuch des Reichsverwesers Ferdinand protestierte, das Wormser Interdikt mit aller Strenge durchzusetzen. Auf dem nachfolgenden Reichstag zu Augsburg war Reutlingen, das seinen Bürgermeister Jos Weiß dorthin entstand hatte, neben dem ungleich einflussreicheren Nürnberg die einzige Reichsstadt, die das gemeinsame Bekenntnis der evangelischen Stände unterzeichnete. Die Confessio Augustana vom 25. Juni 1530 ist im kollektiven Gedächtnis der Stadt über Jahrhunderte ein zentrales Moment der Selbstvergewisserung geblieben. Alljährlich am Fest Johannes Baptista (24. Juni) hatte ein Schüler in der Kirche den Denkspruch zu rezitieren: „Das ist diese Stadt, welche sich zur Stadt Nürnberg getan und 1530 die Augsburger Confession unterschrieben, von welcher sie hernach im wenigsten nicht abgewichen ist.“ Im weiteren Text dieses „Ehrenzeugnisses“ wird die Treue zu Kaiser und Reich betont, die dadurch unberührt blieb.

Die Niederlage der evangelischen Fürsten und Städte im Schmalkaldischen Krieg 1548 stellte auch in Reutlingen für kurze Zeit die Reformation in Frage. In der Marienkirche lebte die katholische Messe wieder auf, die evangelischen Geistlichen wichen in andere Territorien aus, darunter Alber, der nach Stuttgart ging. Mit dem Passauer Vertrag 1552 und dem Augsburger Religionsfrieden jedoch konnte die Stadt endgültig zu den vorherigen Verhältnissen zurückkehren.

5: Reutlingen im konfessionellen Zeitalter

Die Auswirkungen der Reformation erstreckten sich auch auf die klassischen Wirkungsbereiche der Kirche, Schule und Armenhilfe. Dazu wurden die zahlreichen kirchlichen Pfründen in Pflegschaftsverwaltung von Stadt und Spital zusammengeführt. 1531 etwa wurde die Ungeltersche Pfründstiftung in eine Almosenstiftung des Spitals umgewandelt, die Walckersche Stiftung diente künftig dem Schulwesen. In der Reichsstadtzeit bestanden sechs Spendenpflegen, die sich den Aufgaben Kirche, Soziales und Schule zu widmen hatten.

Das Schulwesen orientierte sich am größeren Nachbarn Württemberg, mit dem man durch Schirmvertrag verbunden war. Eine Ordnung für die Lateinschule, die zugleich Aussagen zur Kirchenmusik der Zeit erlaubt, wurde 1566 vom Rat beschlossen. Die Schulaufsicht lag bei dem einem Geistlichen und dem Bürgermeister unterstellten Scholarchat. Chronikalische Nachrichten belegen die schwierige Umsetzung der Schulpflicht. Die Lateinschule befand sich nach dem Stadtbrand zusammen mit den niederen Schularten im 1728 wieder aufgebauten Lyzeum am Weibermarkt. 1750 wurde ein Waisenhaus eingerichtet, für das eine weitere Pflege zu sorgen hatte. Neben diesen städtischen Schulen bestanden in den reichsstädtischen Dörfern Elementarschulen.

Die 1644 erneuerte Kirchenordnung gibt Auskunft über die Gottesdienste und kirchlichen Handlungen in der Stadt. Die Erneuerung erfolgte in der Endphase des für die Stadt katastrophalen 30-jährigen Krieges. Neben Bevölkerungsverlusten hatte Reutlingen unter einer Verschuldungskrise zu leiden, von der sie sich nicht mehr erholen sollte, zumal die weiteren Kriegslasten dieses „eisernen“ Jahrhunderts die Stadt nicht verschonten. Der verheerende Stadtbrand von 1726, der auch die Marienkirche in Mitleidenschaft zog, sorgte für weitere erhebliche Belastungen für Stadt und Bürger. Historisches Bewusststein und Stolz auf die eigene Rolle in der Reformation zeigt sich an den Feiern der Reformationsjubiläen 1617 und 1717. Die im konfessionellen Zeitalter erfolgte Bereinigung der Religionsverhältnisse zeigt sich auch darin, dass Katholiken vom Bürgerrecht während der Reichsstadtzeit ausgeschlossen blieben. Altgläubige Einwohner gab es gleichwohl, und zwar in den nach wie vor bestehenden Klosterhöfen von Marchtal, Zwiefalten und Salem. Wegen dort z.T. abgehaltener Messfeiern kam es noch im 18. Jahrhundert zu heftigen, auch mit publizistischen Mitteln ausgetragenen Auseinandersetzungen zwischen Zwiefalten und Reutlingen.

Im Gefolge des Zusammenbruchs des Alten Reiches wurde Reutlingen 1802 durch Württemberg einverleibt. Mit der Mediatisierung endete auch das eigenständige reichsstädtische Kirchenregiment. Die Reutlinger Kirchen wurden Teil der württembergischen Landeskirche.

6: 19.-20. Jahrhundert

Die fundamentale Neuorganisation von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft im Königreich Württemberg ließ auch Reutlingen nicht unberührt. Die Stadt wurde Sitz eines Dekanates und erhielt zudem, als Kreisstadt des Schwarzwaldkreises, eine der vier Prälaturen der württembergischen Landeskirche. Zu den Neuerungen zählte auch, dass die bislang rein protestantische Stadtgesellschaft eine katholische Minderheit erhielt. 1823 entstand eine katholische Gemeinde, der bis zu einem eigenen Kirchenbau die mittelalterliche Nikolauskapelle überlassen wurde. Die im 19. Jahrhundert sich in geringer Zahl ansiedelnden jüdischen Familien nutzten die religiösen Einrichtungen der Nachbarstadt Tübingen. Auch freikirchliche Gründungen entstanden. In erster Linie ist hier die Methodistische Gemeinde zu nennen, die seit 1865 in Reutlingen aktiv ist und hier 1877 ein Predigerseminar einrichtete.

Im Königreich Württemberg ergaben sich für die Stadt erhebliche wirtschaftliche Entwicklungspotenziale. Die anfänglich vom Textilsektor getragene Industrialisierung, die sich entlang der Echaz seit den 1830er Jahren beobachten lässt, veränderte das Stadtbild und auch die städtische Gesellschaft. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Revolution von 1848/49 nahm sich der Sohn des Reutlinger Finanzkammerdirektors und Landtagsabgeordneten Johannes von Werner, der 1809 in Zwiefalten geborene Gustav Werner (+ 1887) den sozialen Problemen seiner Zeit auf ganz eigene Weise an. Auf der Vorstellung von praktischer christlicher Nächstenliebe basierte eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, die der aus dem Kirchendienst ausgeschiedene vormalige Walddorfer Pfarrer schon 1840 in Reutlingen gegründet hatte. Mit dem Erwerb einer Papierfabrik an der Echaz begann dann 1850 die Geschichte eines weithin singulären Unternehmens, das der Logik unternehmerischen Handelns ebenso folgte wie der christlich motivierten Verpflichtung zur Unterstützung der Schwachen. Das bald so genannte Reutlinger „Bruderhaus“ konnte sich trotz mehrfacher wirtschaftlicher Bedrängnisse mit Qualitätsprodukten halten und differenzierte sich in die Branchen Papier, Maschinenbau und Möbelproduktion aus, die in Teilen bis in die 1980er Jahre existierten. Die Stiftung selbst besteht indes in Form der diakonischen Einrichtung „BruderhausDiakonie“ mit einer Vielzahl von Angeboten zur Jugendhilfe, Alten- und Behindertenpflege bis heute fort und kooperiert etwa in der 2005 als ökumenisches Projekt begründeten „Citykirche“ mit den Kirchen in Reutlingen.

7: Kirche im Nationalsozialismus

Die Geschichte der Kirchen in Reutlingen während dieser dunklen Epoche ist noch nicht geschrieben. In der Stadt, die den späteren Landesbischof Theophil Wurm bis 1927 zum Dekan hatte, leitete ein enger Vertrauter Wurms, Immanuel Friz, bis 1940 den Kirchenbezirk. Im nahen Bronnweiler wirkte bis 1934 Wolfgang Metzger. Der spätere Prälat war eine der zentralen Persönlichkeiten der Bekennenden Kirche in Württemberg. An manchen Reibungspunkten mit dem Regime zeigt sich, dass die Pfarrerschaft in der Stadt des reformatorischen Markteides gewillt war, die Verpflichtung „beim Gotteswort zu verbleiben“, ernst zu nehmen. So warnte der Dekan bereits 1933 vor einer Überbetonung „deutscher Tüchtigkeit“ und „die Kraft des Blutes“ an Stelle der „Treue zu Gott“. Im Kirchenkampf standen die evangelischen Christen zu ihrem Landesbischof. Die Härte der Auseinandersetzung in Reutlingen zeigt sich 1937 schlagend an der in mehreren Veranstaltungssälen inszenierten antikirchlichen Veranstaltung der Kreisleitung nach der mehrheitlichen Weigerung der mit dem Religionsunterricht beauftragten Pfarrer, den Führereid abzulegen. Verbale Entgleisungen auf Parteiveranstaltungen gegen kirchliche Amtsträger schlugen landesweit hohe Wellen und ließen den Oberkirchenrat in Berlin vorstellig werden. Immer wieder gerieten einzelne Geistliche in den Fokus des NS-Apparates, stellvertretend sei Friedrich Schick in Degerschlacht-Sickenhausen genannt, der sich im Konflikt um den Hitlerjugenddienst an Sonntagen nicht scheute, sich mit der Partei anzulegen.

Kirchliche Reaktionen auf die Verfolgung der Juden und die Mordaktion T 4, die in Reutlingen vor allem die Landesfürsorgeanstalt Rappertshofen mit 74 Opfern betraf, sind nicht bekannt. Allerdings weigerte sich der im Vorstand der Gustav-Werner-Stiftung vertretene Pfarrer Wieland anfänglich, für die Behinderten der Bruderhauseinrichtungen die angeforderten Meldebögen auszufüllen.

8: Die Kirche wächst

Das rasante Bevölkerungswachstum der Stadt im 19. und 20. Jahrhundert (1803: 7798, 1852: 12410, 1900: 21494, 1950: 45739 Einwohner) zeitigte den Neubau von Kirchen. Noch im 19. Jahrhundert entstand 1887-1890 die von Heinrich Dolmetsch entworfene Katharinenkirche beim Friedhof Unter den Linden zwischen Reutlingen und Betzingen. Als Interimskirche wurde während der umfassenden Renovierung der Marienkirche die Leonhardskirche 1894 errichtet. Mit Ausnahme der Christuskirche in der Tübinger Vorstadt, die 1936 durch Landesbischof Theophil Wurm eingeweiht wurde, folgten die meisten Kirchenbauten erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Stadt neuerlich erheblichen Bevölkerungszuwachs erfuhr. 2013 umfasst die für die Kernstadt und Betzingen zuständige Evangelische Gesamtkirchengemeinde Reutlingen 8 Kirchengemeinden, hinzu kommen 12 weitere eigenständige Gemeinden in den Stadtteilen.

Aktualisiert am: 17.12.2014