Salzburger Exulanten

Zwei Mal, im 17. und im 18. Jahrhundert, wurden die kirchlichen und weltlichen Behörden des Herzogtums Württemberg mit der Frage der Aufnahme von Glaubensflüchtlingen aus dem Erzbistum Salzburg konfrontiert.

Salzburger Exulanten

Von: Fritz, Eberhard

Die Salzburger Exulanten im Herzogtum Württemberg

Salzburger Exulant im Kerker

Kupferstich von Elias Beck. Landeskirchliche Zentralbibliothek, Nr. 2924. Kurze Historie der evangelischen Emigranten, Memmingen 1733

Zwei Mal wurden die kirchlichen und weltlichen Behörden des Herzogtums Württemberg mit der Frage der Aufnahme von Glaubensflüchtlingen aus dem Erzbistum Salzburg konfrontiert. In den Jahrzehnten nach dem Dreißigjährigen Krieg wandten sich vor allem in den Regionen fern der Herrschaftszentren, verschiedene Einwohner dem Luthertum zu. Eines dieser Gebiete war das osttirolische Defereggental in der Nähe der Stadt Linz. Dort wohnten Männer, die als Hausierer weit herumkamen und schon seit dem 16. Jahrhundert auch regelmäßig das Herzogtum Württemberg besuchten. Sie handelten mit allen möglichen Waren, darunter mit religiösen Büchern und Druckschriften, welche sie auch nach Hause brachten. Begünstigt wurden die lutherischen Strömungen durch die dürftige kirchliche Versorgung der Gemeinden im Defereggental, denn für die abgelegene Gegend fanden sich kaum fähige Pfarrer. Es fehlten aber auch Schulmeister, an denen die Bewohner des Tales großes Interesse hatten. Für die Hausierhändler war es von Vorteil, wenn ihre Kinder lesen und schreiben konnten, denn diese Fähigkeiten würden sie später benötigen, wenn sie wie die Väter als Hausierer umherreisten. Deshalb unterrichteten viele Eltern ihre Kinder selbst oder organisierten Lese- und Rechtschreibunterricht eigenständig. Als Unterrichtsmaterial dienten die religiösen Erbauungsbücher und Schriften, und so drang lutherisches Gedankengut in die Gemeinden ein. Wenn nun jemand unter dem Eindruck dieser Schriften nicht mehr zur Messe erschien, wurde er oder sie zur Rechenschaft gezogen. Bei dauerhafter Weigerung, zum katholischen Gottesdienst zu erscheinen, verfügten die Beamten des Erzbischofs die Ausweisung aus seinem Gebiet. Unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg waren diese Ausweisungen noch selten. Im Jahr 1684 spitzte sich jedoch die Situation im Defereggental dramatisch zu. Nachdem ein Mann verhört worden war und seine lutherische Überzeugung standhaft vertraten hatte, ließ die erzbischöfliche Regierung Untersuchungen anstellen. Vermutlich waren auch wirtschaftliche Interessen im Spiel. Vor allem die Holzschnitzer im Tal beklagten sich bei den Behörden, weil ihre Verkäufe von Madonnen- und Heiligenfiguren stark nachließen.

Bei einer näheren Untersuchung stellte sich heraus, dass ein guter Teil der Einwohner im Defereggental den lutherischen Überzeugungen anhing und sich weigerte, zur Messe zu erscheinen. Erzbischof Maximilian Gandolf Graf von Kuenburg erließ einen Ausweisungsbefehl für alle Untertanen, die sich nicht auf die katholische Konfession verpflichteten. Daraufhin verließen Hunderte von Menschen ihre Heimat und begaben sich auf die Reise in protestantische Länder. Die meisten von ihnen steuerten das Herzogtum Württemberg an, wo sie die herzogliche Regierung bereitwillig aufnahm. Dafür waren vor allem wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend. Denn auf der Schwäbischen Alb und im Schwarzwald herrschte als Folge des Dreißigjährigen Krieges noch ein dramatischer Bevölkerungsmangel. Diese beiden Gebiete sollten mit Menschen besiedelt werden, welche schon aus ihrer Heimat in den Alpentälern ein karges Leben gewöhnt waren. Außerdem verließen fast ausschließlich junge Leute ihre Heimat, so dass tüchtige Arbeitskräfte ins Land kamen. Ältere Menschen waren kaum darunter, die man hätte versorgen müssen.

Für die Glaubensflüchtlinge gestaltete sich die Vertreibung aus dem Defereggental dramatisch. Viele von ihnen waren Hofbesitzer und verfügten teilweise über beträchtlichen Grundbesitz, den sie wegen des plötzlich entstehenden Überangebots auf dem Immobilienmarkt weit unter Preis verkaufen mussten. Davon hatten sie hohe Abgaben zu entrichten, und es blieb ihnen nur wenig Vermögen. Weitaus schlimmer war aber der Umstand, dass der Erzbischof verboten hatte, Kinder unter 15 Jahren mitzunehmen. Er ließ die Kinder der Flüchtlinge in katholischen Familien unterbringen, damit sie im „wahren Glauben“ erzogen wurden. Diese Trennung von den Kindern machte die Flucht besonders schwer, aber der Großteil der Eltern ließ sich nicht davon abhalten.

Die herzogliche Regierung in Stuttgart betrieb mit den Glaubensflüchtlingen eine systematische Ansiedlungspolitik. In den Gemeinden auf der Schwäbischen Alb und im Schwarzwald fragte man nach, ob sie Arbeitskräfte benötigten. Dabei stellte sich in mehreren Albdörfern heraus, dass zahlreiche Hirten und Feldschützen aus katholischen Nachbargemeinden stammten. Offenbar reichten die seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges einströmenden Schweizer Zuwanderer nicht mehr aus, um diese Stellen zu besetzen, oder diese Migranten hatten sich soweit etabliert, dass sie ertragreichere Tätigkeiten verrichteten. Die Regierung verfügte, dass die katholischen Hirten und Feldschützen sofort zu entlassen und durch Salzburger Exulanten zu ersetzen seien.

Nach ihrer Ankunft in Stuttgart wurden die Deferegger Exulanten zunächst ausführlich über ihre persönlichen Verhältnisse befragt und auch darüber, ob sie der evangelischen Landeskirche angehören wollten. Dazu erklärten sich alle bereit. Da es aber in der Heimat keine organisierte protestantische Kirche gegeben hatte, war das religiöse Wissen der Exulanten unsystematisch und gering. Die Kirchenleitung ließ ihnen Katechismusunterricht erteilen. Nach einer Prüfung wurden sie dann in die Landeskirche aufgenommen. Die weltlichen Behörden wiesen ihnen einen neuen Wohnort zu. Viele zogen in den Schwarzwald, wo eine neue Stadt entstand. Die Stadt Freudenstadt wurde größtenteils von diesen Exulanten aufgebaut und bewohnt. Andere Familien wurden in das Amt Urach geschickt. Ein Namensverzeichnis über die gesamte Gruppe hat sich erhalten; leider ist darin nicht vermerkt, in welchen Orten sich die Zuwanderer dann endgültig niederließen. Man muss also die Zielorte in den Kirchenbüchern erheben. Innerhalb einer Generation wurden die Glaubensflüchtlinge völlig von der einheimischen Bevölkerung eingegliedert. Die herzogliche Regierung hatte nämlich alle Absichten, eine geschlossene Siedlung für die Deferegger Exulanten zu begründen, von vornherein unterbunden. Langfristig wollte sie keine religiöse Sondergruppe im Land dulden. Diese Rechnung ging auf, denn die meisten unverheirateten Flüchtlinge nahmen einen einheimischen Ehegatten, und ihre Nachkommen unterschieden sich nicht mehr von der eingesessenen Bevölkerung.

Allerdings hatte diese Einwanderung noch ein dramatisches Nachspiel, denn die zurückgelassenen Kinder waren in den Heimatorten zurückgeblieben. Eineinhalb Jahrzehnte nach der Migration entschlossen sich die Eltern, diese Kinder heimlich zu entführen und sie zu sich zu holen. Sie reisten also ins Defereggental und versuchten, ihre Kinder nachts aus den Häusern zu holen. Dabei spielten sich wahre Dramen ab. Nur ein Teil der Kinder wollte mit nach Württemberg ziehen. Vor allem solche Jungen und Mädchen, die als Säuglinge oder Kleinkinder von ihren Eltern getrennt worden waren, erkannten diese nicht wieder und wollten im Defereggental bleiben. So hinterließ die gewaltsame Vertreibung in vielen dieser Familien lebenslange seelische Wunden.

Nach Jahrzehnten der relativen Toleranz im Fürstbistum Salzburg begann in den frühen 1730er Jahren eine neue Vertreibungswelle in einem zuvor ungekannten Ausmaß. Am 11. November 1731 veröffentlichte Leopold Anton von Firmian (1679-1744), seit 1727 Fürsterzbischof von Salzburg, ein auf den 31. Oktober datiertes Patent, wonach die Protestanten in seinem Herrschaftsgebiet unverzüglich das Land verlassen sollten. Im Lauf weniger Jahre emigrierten etwa 20000 Menschen aus dem Gebiet des Erzbistums Salzburg.

Dieses Mal jedoch hatten sich die Bedingungen in den aufnehmenden protestantischen Territorien Südwestdeutschlands geändert. Die Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Krieges waren seit dem frühen 18. Jahrhundert ausgeglichen, die Bevölkerung stieg stark an. Die Salzburger Exulanten zogen in großen Gruppen durch Südwestdeutschland und fanden zunächst in den protestantischen Reichsstädten Memmingen, Augsburg und Ulm Aufnahme. Dort kümmerten sich vor allem pietistisch eingestellte Theologen aus dem Umkreis der Franckeschen Anstalten in Halle an der Saale um sie. Zusammen mit den Bemühungen um die Bibelverbreitung in Nordamerika und den Missionsprojekten in Indien bildeten die Hilfsprojekte für die Salzburger Exulanten einen der wichtigsten Bereiche pietistisch motivierter sozialer Aktivitäten. Als Aufnahmegebiet war selbstverständlich auch das Herzogtum Württemberg vorgesehen. Einerseits hatten die Landesherren dort bereits bei der früheren Vertreibung im späten 17. Jahrhundert Salzburger Exulanten aufgenommen, andererseits gehörte Württemberg nach wie vor zu den bedeutendsten protestantischen Territorien des Deutschen Reiches. Zunächst schienen sich die Hoffnungen auf Aufnahme eines entsprechenden Kontingentes an Exulanten zu erfüllen. Nach dem Vorbild der Waldenserdeputation wurde bei der herzoglichen Regierung eigens für die Ausgewiesenen eine „Salzburger Deputation“ eingerichtet. Bereits nach kurzer Zeit mussten die ankommenden Salzburger Untertanen jedoch erkennen, dass sie auf eine sehr geringe Aufnahmebereitschaft stießen. Die Deputation blieb offenbar ohne größeren Einfluss, die Regierung des bereits in einem höheren Alter stehenden Herzogs Eberhard Ludwig von Württemberg (+1733) verhielt sich äußerst restriktiv. Zwar wurden die Beamten in den Ämtern angewiesen, den durchreisenden Exulanten den Durchzug zu gestatten und Pässe auszustellen. Wer sich im Land niederlassen wollte, musste einen Fragebogen ausfüllen. Deutlich erkennbar ist jedoch von vornherein die Absicht, lediglich solche Exulanten anzusiedeln, die dem Herzogtum wirtschaftlichen Nutzen brachten. Schlussendlich wollte man die gesamten Kosten anteilig auf alle Städte und Ämter des Landes umlegen.

Bezüglich des Umgangs mit den Vertriebenen aus dem Erzbistum Salzburg spielten religiöse Motive wie Mitleid mit den Menschen gleicher Konfession, Hilfe für verfolgte Christen oder gar Barmherzigkeit so gut wie keine Rolle. Die herzogliche Regierung ließ sich fast ausschließlich von ökonomischen Erwägungen leiten, die in den herzoglichen Reskripten explizit angesprochen werden. Im Februar 1732 ordnete Herzog Eberhard Ludwig an, keinesfalls alle Salzburger Exulanten aufzunehmen. Selbstverständlich sollten sich die Untertanen der vertriebenen Glaubensgenossen annehmen. Aber die lokalen Beamten sollten sie ermuntern, nach Nürnberg, Franken sowie in die Fürstentümer Ansbach und Bayreuth weiterzuziehen, damit dem Land keine allzu hohen Kosten entstünden. Auch in den pietistischen Kreisen des Herzogtums fanden sich keine entschiedenen Befürworter für eine Ansiedlung der Salzburger Exulanten. Kurze Zeit nach dem Ereignis publizierte zwar der prominente württembergische Pietist Georg Konrad Rieger eine Serie von Artikeln über die Vertreibung der Salzburger Exulanten und gab es wenige Jahre später als Buch heraus. In der württembergischen Landeskirche schrieb man ein Kirchenopfer aus, bei dem erhebliche Summen zusammenkamen. Ein Jahrzehnt lang beschäftigten sich die Landstände mit der Frage, was mit den nicht verwendeten Geldern geschehen sollte. Warum sich im Herzogtum Württemberg kein prominenter Pietist dem internationalen Netzwerk anschloss und sich dadurch religiös, kommunikativ und geistig mit den protestantischen Metropolen in Europa verband, wäre noch zu untersuchen.

Die herzogliche Regierung stellte bei der Aufnahme dieser Exulanten überraschend deutlich utilitaristische Beweggründe heraus. Zwar wird in formelhaften Wendungen die Verfolgung der Glaubensgenossen erwähnt, aber das eigentliche Interesse der herzoglichen Beamten konzentrierte sich auf den ökonomischen Nutzen der Immigranten. Es handelte sich meist um Bauern, Handwerker und Instrumentenmacher oder Musiker. Nach ihrer Ankunft wurden die wenigen Exulanten, welche aufgenommen wurden, auf verschiedene Ämter verteilt und dort angesiedelt. Das mag der Grund dafür sein, warum sie innerhalb kurzer Zeit nicht mehr als eigene soziale Gruppierung erwähnt werden und – ebenso wie beispielsweise die Schweizer Einwanderer auf der Schwäbischen Alb – lange Zeit in der Forschung keine Beachtung fanden.

Aktualisiert am: 18.12.2014