Taubstummenanstalt Wilhelmsdorf

Als eine der ersten Einrichtungen für Gehörlose wurde 1837 die "Taubstummenanstalt" in Wilhelmsdorf gegründet. Heute ist sie eine moderne Schule, die vor allem auf die Förderung von hörgeschädigten und zentral sprachbehinderten Kindern spezialisiert ist.

Taubstummenanstalt Wilhelmsdorf

Von: Bing- von Häfen, Inga

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Die Anfänge diakonischer Arbeit in Wilhelmsdorf
  2. 2: Gründung der Taubstummenanstalt
  3. 3: Grundzüge der Taubstummenpädagogik
  4. 4: Beginn der Ära Johannes Ziegler
  5. 5: Die Arbeit mit `schwach begabten´ Taubstummen
  6. 6: Schulbildung für Gehörgeschädigte
  7. 7: Nationalsozialistische Gesundheitspolitik
  8. Anhang

1: Die Anfänge diakonischer Arbeit in Wilhelmsdorf

Saalplatz in Wilhelmsdorf

Aus: Johannes Ziegler, Wilhelmsdorf. Ein Königskind, Wilhelmsdorf 1924

Die 1824 gegründete Gemeinde Wilhelmsdorf hatte zu Beginn mit äußerst ungünstigen Rahmenbedingungen zu kämpfen. Das unwirtliche Sumpfland bot den ersten Siedlern einen trostlosen Anblick: „Bald lagen das Lengenweiler Moos, Wolfsbühle und Eichhölzle in ihrer ganzen Ursprünglichkeit vor ihren Augen da. Sie bilden einen (…) breiten Streifen sumpfigen Moosgrundes, gelegen in breitem flachem Thale. (…) Der Sumpf war unterbrochen von 2 Seen. (…). Diesen Ufern konnte des Menschen Fuß nicht nahen. War durch das Forchengestrüpp nur mittels gutgezielter Sprünge von einem Büschel Wollgras zum andern hindurchzukommen, und ließ hier jeder Fehlsprung Einen bis zum Knie und noch weiter in der braunen Grundsuppe versinken, so boten diese Ufer in weitem Kreise noch weniger Festigkeit. "(1) Die Aussichten auf ein ertragreiches Leben in der neuen Siedlung, für die König Wilhelm I. Pate stand, waren alles andere als rosig. Katastrophale Bodenbedingungen, die ein wirtschaftliches Auskommen durch den Ertrag eigener Landwirtschaft unmöglich machten, fehlendes technisches Know-how (keiner der Siedler hatte Erfahrungen in der Urbarmachung von Sumpfland), noch dazu den bisweilen äußerst widrigen Wetterbedingungen ausgesetzt und umgeben von einem anfänglich eher skeptischen katholischen Umland – all diese Faktoren klangen nicht wirklich Erfolg versprechend. Aber obwohl die frühen Siedler unter der Führung von Gottlieb Wilhelm Hoffmann aus Korntal in einfachsten Verhältnissen und in bitterer Armut leben mussten und der Ort oftmals nur knapp vor dem wirtschaftlichen Ruin stand, blieb das bisweilen todgesagte Projekt am Leben.(2)

Ungeachtet aller Probleme reifte in Hoffmann der Plan, in Wilhelmsdorf ein Rettungshaus für Knaben gründen zu wollen. Angesichts der ungesicherten Existenz des Ortes erschien dieses Vorhaben zwar sehr ambitioniert, das Konzept des Rettungshauswesens war jedoch seinerzeit hochaktuell. Vielerorts waren seit Beginn des 19. Jhs. diese Häuser ins Leben gerufen worden waren.(3) Sie sollten armen, heimatlosen und verwahrlosten Kindern ein neues Heim geben und sie auf einen geordneten Lebensweg führen. Aber Hoffmann verfolgte in Wilhelmsdorf noch ein viel weitreichenderes Ziel: Durch die Gründung wohltätiger Einrichtungen wollte er den abgeschiedenen Ort zu einem wichtigen, überregional bekannten Stützpunkt der Inneren Mission machen. Zudem erhoffte er sich von den neuen Einrichtungen einen ganz praktischen Nebeneffekt: Sie sollten Wilhelmsdorf dringend benötigte neue Einnahmequellen erschließen und zugleich den ortsansässigen Siedlern Beschäftigungsmöglichkeiten bieten.(4)

Mit der Einrichtung des Rettungshauses für Knaben im Jahr 1830 legte Hoffmann den Grundstein für die Entwicklung der `christlichen Liebeswerke´ in Wilhelmsdorf. Weitere sollten folgen: Eine Rettungsanstalt für Mädchen, eine Besserungsanstalt für strafentlassene Frauen, eine Anstalt für Säuglinge. Nicht alle Häuser konnten sich etablieren, lediglich die Rettungsanstalt für Mädchen blieb erhalten.

2: Gründung der Taubstummenanstalt

Oßwaldbau in Wilhelmsdorf

Johannes Ziegler, Grüne Blätter, 1. Band, Wilhelmsdorf 1901

In diesen Jahren des Aufbruchs kam auf persönliches Betreiben Hoffmanns auch der junge Lehrer August Friedrich Oßwald nach Wilhelmsdorf. Dieser war jedoch nicht nur Volksschullehrer, denn er hatte in den jüngst gegründeten Taubstummenanstalten von Winnenden und Schwäbisch Gmünd eine zusätzliche Ausbildung zum Taubstummenlehrer durchlaufen.(5) Nun war die Existenz eines eigenen Ausbildungsberufs für die Beschulung taubstummer Menschen im frühen 19. Jh. innovativ. Bislang galten Taubstumme gemeinhin als bildungsunfähig, sie hatten kaum Aussicht auf ein eigenständiges berufliches Auskommen und fristeten ein Dasein am Rande der Gesellschaft.

Dies sollte sich nun ändern: Im Gefolge der allgemeinen Wohltätigkeitsbestrebungen des 19. Jhs., die zu einem regelrechten Gründungsboom von Einrichtungen und Unterstützungsvereinen aller Art führten, gerieten nun auch Menschen mit geistigen und körperlichen Schädigungen ins Blickfeld des engagierten Bürgertums. Dessen Vertreterinnen und Vertreter waren es, die zumeist gemeinsam mit Ortsgeistlichen auf lokaler Ebene die praktische Ausübung `christlicher Liebestätigkeit´ organisierten. Auch das Königshaus beteiligte sich an der allgemeinen Aufbruchsstimmung. Im Jahr 1817 riefen Königin Katharina und König Wilhelm I. die wichtige `Zentralleitung der Wohltätigkeitsvereine´ ins Leben, die zur organisatorischen Basis der geordneten Wohlfahrtspflege im Land werden sollte.(6)

Hoffmanns Plan, in einem nach wie vor ums wirtschaftliche Überleben kämpfenden Ort eine Taubstummenanstalt gründen zu wollen, mag für manche Zeitgenossen nur schwer nachvollziehbar gewesen sein. Taubstumme Kinder waren den Wilhelmsdorfern bislang fremd und das nötige Kapital für den Start einer neuen Unternehmung fehlte natürlich ebenfalls. Trotz dieser Widrigkeiten erwies sich Hoffmann als weitsichtig. Ob er die Zahlen einer amtlichen Erhebung von 1820 kannte, laut derer es in Württemberg 1169 Taubstumme gab, ist nicht bekannt.(7) Aber er ahnte offenbar, dass die wenigen bislang bestehenden Schul- und Anstaltsplätze für taubstumme Kinder bei weitem nicht ausreichen würden. Die Einrichtung einer entsprechenden Anstalt in Wilhelmsdorf erschien ihm deshalb als Erfolg versprechend.

Zum Zeitpunkt von Oßwalds Ankunft in Wilhelmsdorf 1837 war von alldem noch nichts zu sehen. Es gab keine Taubstummen, kein passendes Gebäude und kein Geld. Dessen ungeachtet schien Oßwald genau der richtige Mann für Hoffmann zu sein: Er erkannte trotz der schwierigen Rahmenbedingungen offenbar das Potenzial des Projektes. Zudem war er bereit, für zukünftigen Erfolg eine Durststrecke zu durchlaufen und auf den richtigen Moment zu warten. Diese Zeit wusste er effektiv zu nutzen: Er arbeitete im neu gegründeten Rettungshaus für Mädchen und lernte hier seine erste Ehefrau Babette kennen, die dort Hausmutter war.(8)

Schon bald ereignete sich die entscheidende Wende. Ein glückloser Wilhelmsdorfer Siedler kehrte der Gemeinde den Rücken, um sein Glück im fernen Amerika zu suchen. Ob es ihm gelang ist nicht bekannt, für Hoffmann und Oßwald hingegen wurde sein Weggang zum Glücksfall. Das nun leerstehende Siedlungshaus wurde mittels weniger Umbauten in eine Taubstummenanstalt umfunktioniert. Im ehemaligen Stall sowie unter dem Dach entstanden zusätzliche Zimmer und das Esszimmer diente zugleich als Schulzimmer. Was im Nachhinein nach einer reibungslosen Angelegenheit klingt, war für Oßwald ein Neuanfang mit erheblichem Risikopotential. Mangels anderer Alternativen war er gezwungen, die Anstalt auf eigene Rechnung zu betreiben. Die Gemeinden Korntal und Wilhelmsdorf hatten es abgelehnt bzw. ablehnen müssen, die Verantwortung zu übernehmen. Obgleich finanzielle Sorgen nun zu seinem täglichen Begleiter werden sollten, scheute Oßwald das Risiko nicht und so zog bereits am 7. Januar 1838 der erste Zögling in den Oßwaldbau ein.(9) Der Start verlief holprig, wie Oßwald rückblickend ausführte: „Obgleich in Oberschwaben keine andere derartige Anstalt bestand und besteht, so wurden doch in dem ersten und zweiten Jahre nur wenige Zöglinge angemeldet, weil einestheils das Publikum warten zu wollen schien, bis die Anstalt sich einen Ruf erworben hätte, und weil anderntheils auch die katholischen Bewohner Oberschwabens Bedenken tragen mochten, ihre Kinder einer evangelischen Anstalt anzuvertrauen.“(10) Doch die ersten Anlaufschwierigkeiten waren bald überwunden, sogar Taubstumme aus Baden und der Schweiz kamen nach Wilhelmsdorf. Hoffmanns Plan war aufgegangen, Bildungsarbeit für Taubstumme erwies sich ganz offensichtlich als zukunftsträchtiges Unternehmen – und sie verschaffte diesem „Ort am Ende der württembergischen Welt“(11) überregionale Aufmerksamkeit.

3: Grundzüge der Taubstummenpädagogik

Taubstummenanstalt Wilhelmsdorf

Aus: Johannes Ziegler, Wilhelmsdorf. Ein Königskind, Wilhelmsdorf 1924

Von Anfang an verfolgte die Taubstummenanstalt ein klares Bildungskonzept. Allerdings gab es kaum Lehrbücher und anerkannte Lehrmethoden, da die Gehörlosenpädagogik zu Beginn des 19. Jhs. eine junge Disziplin war. Dementsprechend war bei Methodik und Unterrichtsinhalten die Erfindungsgabe der Lehrer gefragt. Oßwald jedoch hatte in Schwäbisch Gmünd bei dem erfahrenen Taubstummenpädagogen Victor August Jäger gelernt, nach dessen Methodik er dann in Wilhelmsdorf unterrichtete. Seine Ziele formulierte Oßwald folgendermaßen: „Sämtliche bildungsfähige Zöglinge sollen mit Gottes Hilfe dahin gebracht werden, daß sie in deutlicher Rede sich mit jedermann verständigen, ihre Gedanken schriftlich darstellen und ein in einer kindlichen und faßlichen Sprache geschriebenes Buch lesen können; ferner, daß sie im Schönschreiben, Zeichnen, Rechnen, in der Kunde der Natur, der Erde und anderem die nötige Fertigkeit erlangen, und vor allem, daß sie mit der biblischen Geschichte und den Heilswahrheiten des Evangeliums so vertraut sind, daß sie dadurch im Herzen ergriffen und erneuert werden.“(12) Insgesamt orientierten sich die Lerninhalte der Taubstummenanstalten an den Unterrichtszielen der Volksschulen. Vordringlich aufgenommen wurden Kinder im Alter von 5-12 Jahren. Ebenso wie ihre hörenden und sprechenden Altersgenossen sollten die Taubstummenschüler befähigt werden, Berufe auszuüben und auf diesem Wege ein möglichst eigenständiges Leben führen zu können. Gelernt wurde zunächst einmal die Lautsprache, denn sie galt als Voraussetzung für Kommunikation und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

4: Beginn der Ära Johannes Ziegler

Johannes Ziegler

Aus: Johannes Ziegler, Grüne Blätter, 1. Band, Wilhelmsdorf 1901

Oßwald arbeitete mit schier unendlichem Engagement, aber er konnte angesichts steigender Schülerzahlen die gesamte Arbeit nicht dauerhaft allein bewältigen. Zudem erfüllte die Einrichtung mittlerweile eine zweite Funktion: Seit 1857 wurde sie gemeinsam mit einem Knabeninstitut als Doppelanstalt betrieben und Oßwald war auch für die dort untergebrachten Knaben der zentrale Ansprechpartner. Insgesamt mussten inzwischen 50 Kinder unterrichtet werden – etwa die Hälfte von ihnen war taubstumm. Die dringend benötigte Hilfe fand Oßwald 1861 in einem jungen Lehrer, der am Nürtinger Lehrerseminar zum Volksschul- und Taubstummenlehrer ausgebildet worden. Nur drei Jahre später überzeugte dieser einen Kommilitonen aus Studienzeiten, ebenfalls als Lehrer nach Wilhelmsdorf zu kommen: Johannes Ziegler. Entgegen seiner ursprünglichen Pläne, nur kurze Zeit zu bleiben, sollte Ziegler den Rest seines Lebens in Wilhelmsdorf verbringen.(13) Oßwald und er arbeiteten Hand in Hand. Durch Zieglers Heirat mit Oßwalds Tochter Mathilde waren beide bald auch verwandtschaftlich miteinander verbunden. Nach dem Rückzug von Oßwald übernahm das Ehepaar Ziegler 1873 die Doppelanstalt in eigener Verantwortung.

Auf ihren Schultern lag nun eine große Last. Der alte Oßwaldbau war für die stark wachsende Anstaltsfamilie viel zu klein. Die Errichtung eines Neubaus und auch die räumliche Trennung beider Arbeitsbereiche waren eigentlich unerlässlich. Allerdings war für solche Veränderungen kein Geld vorhanden. Die Taubstummenanstalt schrieb auch nach bald 30-jähriger Existenz keine schwarzen Zahlen – das eingehende Kostgeld der Knabeninstituts-Schüler musste so manches finanzielle Loch stopfen. In dieser Phase erwog Ziegler, die defizitäre Arbeit der Taubstummenanstalt aufzugeben. Aber es sollte anders kommen. Das doppelt gezogene Neujahrslos „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe“ vermochte die entscheidende Wende herbeizuführen.(14) Ziegler folgerte daraus, dass er keinen Arbeitszweig aufgeben sollte. Er wagte im Gegenteil sogar den entscheidenden Schritt nach vorn: Er wollte die bislang verbundenen Arbeitsbereiche Knabeninstitut und Taubstummenanstalt trennen. Die Taubstummen erhielten im Januar 1879 mit dem `Schirm´ ihr erstes eigenes Domizil. Das Knabeninstitut verblieb zunächst im Oßwaldbau und bezog einige Jahre später mit der `Burg´ einen Erweiterungsbau.

5: Die Arbeit mit `schwach begabten´ Taubstummen

Höchsten, Schirm und Schatten

Aus: Johannes Ziegler, Grüne Blätter, Band 3, Wilhelmsdorf 1907

Schon im Sommer 1881 wurde mit dem `Höchsten´ der nächste Neubau errichtet. Hier sollten die `bildungsunfähigen´, `schwachsinnigen´ oder `schwachen´, also lernverzögerten und geistig behinderten Taubstummen eine Heimat finden. Obwohl sie eigentlich nicht in die Bildungskonzepte der Taubstummenanstalten passten – und in den übrigen Einrichtungen deswegen keine Aufnahme fanden – war man in Wilhelmsdorf schon immer bereit gewesen, auch diejenigen zu beherbergen, die anderswo abgewiesen wurden.(15) Dies geschah aber nicht ausschließlich aus der idealistischen Überzeugung praktizierter `christlicher Liebestätigkeit´ sondern auch aus Pragmatismus. Die Taubstummenanstalt hatte angesichts freier Plätze und chronischem Finanzmangel bei der Auswahl ihrer Pfleglinge schon in ihrer Anfangszeit nicht allzu wählerisch sein. Mit dem Bau des `Höchsten´ – dem ersten seiner Art im gesamten Reich – etablierte sich die Pflege für mehrfach behinderte Taubstumme nun als eigener Arbeitsbereich. Nachdem Johannes Ziegler dies 1882 auf der Stuttgarter Konferenz für Idiotenpflege öffentlich kundgetan hatte, nahm ihre Zahl fortan kontinuierlich zu. Von den 105 Zöglingen, die 1887/88 in der Taubstummenanstalt lebten, gehörte etwa ein Drittel zu den `Bildungsunfähigen´, die die Anstaltsschule nicht besuchten.(16)

Den verantwortlichen Lehrern vor Ort wurde rasch klar, dass nun das gesamte Schulgefüge der Anstalt neu strukturiert werden musste. Schließlich sollten die „Wilhelmsdorfer Taubstummen“ nicht nur versorgt und beherbergt werden. Man verfolgte das Ziel, auch sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu unterrichten und auszubilden. Oberlehrer Föll äußerte sich folgendermaßen: „Sie sind dort eine große Geduldsprobe für den Lehrer, ein Hindernis für das schnellere Vorwärtskommen der begabteren Mitschüler (…). Es wurde daher auch unter den Taubstummenlehrern längst die Forderung erörtert, daß man solche Schwachbegabte, um ihnen gerecht werden zu können, besonders nehmen und nach einem anderen Maßstabe unterrichten müsse. (…) Mühsam, sehr mühsam ist die Arbeit an Kindern dieser Art, sehr langsam, fast unmerklich, besonders im ersten Jahr, sind die Fortschritte; und recht bescheiden, im Vergleich zu den gesunden und normalbegabten Kindern, sind und bleiben die erreichbaren Erfolge.“(17) Diese Anstrengungen wurden offenbar nicht einmal von den Angehörigen der Kinder honoriert, die vielfach offenbar die zu erzielenden Lernerfolge deutlich überschätzt hatten. Wir hören noch einmal Lehrer Föll: „Wir müssen also unseren Unterrichtsstoff zum voraus auf das Notwendigste beschränken und uns nach aller angewandten Mühe oft mit Ergebnissen zufrieden geben, welche selbst in den Augen der Eltern, die doch wissen sollten, was wir mit ihren Kindern übernommen haben, kaum Gnade finden; jedenfalls finden dieselben die Fortschritte besonders im ersten Jahr viel zu langsam, und statt Dank ernten wir nicht selten verblümten Tadel.“(18) Aber in der Taubstummenanstalt ließ man sich durch derart negative Reaktionen nicht vom eingeschlagenen Weg abbringen – schließlich leistete man einmal mehr Pionierarbeit und da waren Anfangsschwierigkeiten und Rückschläge schließlich unvermeidbar.

6: Schulbildung für Gehörgeschädigte

Lautierender Taubstummer

Landeskirchliches Archiv, Bildersammlung, Nr. 10012

Die Jahrzehnte nach der Wende zum 20. Jh. waren einmal mehr von vielen Veränderungen geprägt. Zunächst einmal verstarb 1907 der allseits hochverehrte Johannes Ziegler. Er hatte das gesamte Werden der Wilhelmsdorfer Anstalten über einen langen Zeitraum geprägt und ihnen immer wieder neue Arbeitsfelder erschlossen.(19) Der Erfolg der Arbeit war zu nicht geringen Teilen direkt mit Zieglers Persönlichkeit, seinem Engagement aber auch seinem Mut und seiner Zuversicht verbunden. Sein letzter Wille, die diakonischen Werke dauerhaft rechtlich abzusichern, konnte 1916 endlich realisiert werden. (20) Sie wurden von einem Privatunternehmen in einen eingetragenen Verein umgewandelt, der den Namen „Zieglersche Anstalten e.V.“ erhielt. Damit wurde die Wertschätzung, die man dem Wirken des langjährigen Vorstehers entgegenbrachte, dauerhaft zum Ausdruck gebracht.

Ebenso wie Johannes Ziegler scheuten sich auch seine Nachfolger nicht davor, neue Arbeitsfelder in Wilhelmsdorf zu integrieren. Sie beteiligten sich mit großem Engagement an der seit der Jahrhundertwende einsetzenden Entwicklung des Schulwesens für gehörgeschädigte Kinder. In diesem Sinne wurden in den Zieglerschen nun nicht mehr ausschließlich komplett gehörlose sondern vermehrt auch hörende, aber `schwach begabte´ Kinder aufgenommen. Die Folgen für den Anstaltsalltag waren gravierend, denn die unterschiedlichen Pfleglinge mussten individuell betreut und untergebracht werden. Schritt für Schritt etablierte sich deshalb seit den 1930er Jahren neben der Gehörlosenschule auch eine Hilfsschule für Hörende.(21)

7: Nationalsozialistische Gesundheitspolitik

Diese gelebte Gemeinschaft von Menschen mit den verschiedensten Behinderungen, wie sie seither in Wilhelmsdorf gelebt worden war, wurde jedoch in dieser Zeit durch die rassenhygienischen Vorgaben der seit 1933 herrschenden nationalsozialistischen Machthaber jäh unterbrochen. Bis 1938 wurden im Ravensburger Heilig-Geist-Spital 13 Pfleglinge der Zieglerschen im Rahmen des `Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses´ zwangssterilisiert.(22) Und auch die `Vernichtung lebensunwerten Lebens´ im Rahmen des Euthanasie-Programms machte vor den Insassen der Taubstummenanstalt nicht halt. Der damalige Anstaltsleiter Heinrich Hermann bemühte sich, seine Schützlinge vor dem Abtransport zu bewahren. Er wusste um die Lebensgefahr für seine Pfleglinge und hatte eine aktive Beteiligung bis zuletzt verweigert. Aber er konnte schlussendlich wenig ausrichten. Im März 1941 wurden 19 Pfleglinge in die Hessische Tötungsanstalt Hadamar gebracht, 18 von ihnen wurden dort ermordet.(23) Im Rahmen reichsweiter Umstrukturierungen auf dem Gesundheitssektor wurde die Taubstummenanstalt zudem angewiesen, zukünftig nur noch `bildungsfähige schwachsinnige´ Taubstumme aufzunehmen. Trotz erneuten Widerspruchs von Heinrich Hermann mussten 1943 alle schwerkranken Pflegefälle – Erwachsene und Kinder gleichermaßen – das Haus verlassen.(24) Zum Glück für den weiteren Fortgang der Arbeit blieben weitere staatliche Eingriffe aus.

In den 1950er Jahren machte man in Wilhelmsdorf – so lapidar das klingen mag – dort weiter, wo man vor dem Krieg aufgehört hatte. Ziel war die differenzierte Ausgestaltung der verschiedensten Arbeitsbereiche der Gehörlosen- und Gehörgeschädigtenpädagogik. Allerdings war offenkundig, dass parallel zur Entwicklung fachlicher Konzepte auch umfassende bauliche Modernisierungen erforderlich sein würden. Und so begann eine Periode des Aufbruchs, der Neugestaltung aber auch der räumlichen Ausweitung.(25) Aus der Taubstummenanstalt in einem bescheidenen Wilhelmsdorfer Siedlungshaus ist heute ein im gesamten Oberland präsentes modernes Hör-Sprach-Zentrum geworden, in dessen Zentrum seit jeher steht: Leben, Lernen und Gemeinschaft erfahren.

Aktualisiert am: 26.06.2015