Diakonisches Werk Württemberg

Das Diakonische Werk Württemberg besteht aus zwei Säulen, die der Inneren Mission und die des Hilfswerks der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Während der Anfang der Inneren Mission in Württemberg bereits im 19. Jahrhundert liegt, wurde das Hilfswerk 1945, unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet.

Das Diakonische Werk Württemberg

Von: Besch, Dorothea

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Die Anfänge der Inneren Mission in Württemberg
  2. 2: Von der „Landesvereinigung“ zum „Landesverband“
  3. 3: Der Landesverband der Inneren Mission im Nationalsozialismus
  4. 4: Wiederaufbau und Neubeginn – das Evangelische Hilfswerk der Evangelischen Landeskirche in Württemberg
  5. 4.1: Fürsorge für Kinder – Erholungsheime und Knabenheimschule Kleinglattbach
  6. 4.2: Die Gründung der Jugendaufbaugilden
  7. 4.3: Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirche in Thüringen - die Patenschaftsaktion
  8. 4.4: Wohnungsnot und Wohnraumbeschaffung
  9. 4.5: Die Hilfskomitees der Heimatvertriebenen
  10. 5: Die Innere Mission und das Hilfswerk der Evangelischen Landeskirche in Württemberg auf dem Weg zum Diakonischen Werk Württemberg
  11. Anhang

Das Diakonische Werk Württemberg besteht aus zwei Säulen, die der Inneren Mission und die des Hilfswerks der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Während der Anfang der Inneren Mission in Württemberg bereits im 19. Jahrhundert liegt, wurde das Hilfswerk 1945, unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet.

1: Die Anfänge der Inneren Mission in Württemberg

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verursachten die Napoleonischen Befreiungskriege, die beginnende Industrialisierung und klimabedingte Missernten eine Massenarmut in Württemberg. Zur Bekämpfung der Armut schlossen sich Geistliche und wohlhabende Privatpersonen zusammen und gründeten verschiedene wohltätige Vereine, um vor allem betroffene Kinder und Jugendliche vor Verwahrlosung zu schützen und durch Anleitung zu handwerklicher Arbeit eine Zukunftsperspektive zu bieten. So entstanden z. B. das Hoffmannhaus der Evangelischen Brüdergemeinde in Korntal 1823, die Paulinenpflege in Winnenden 1823, die Paulinenpflege in Kirchheim 1826, die Kinderrettungsanstalt in Calw-Stammheim 1828.(1) Nach und nach kam es auch in anderen Orten zu sogenannten Kinderrettungsanstalten.(2) 


Taubstummenanstalt Höchsten, Wilhelmsdorf, ca. 1940

LKAS, Bildersammlung Zieglersche Anstalten

Mit den Blinden- und Taubstummenanstalten in Schwäbisch Gmünd, Stuttgart, Winnenden und Wilhelmsdorf richtete sich der Blick der Wohltätigkeitsvereine auch auf behinderte Menschen und ihre Unterbringung in sogenannten Krüppelheimen. Viele dieser Initiativen wurden aus christlich-pietistischer Nächstenliebe gegründet. Den Initiatoren der verschiedenen Einrichtungen war es ein Anliegen, neben der sozialen Zuwendung auch die christliche Botschaft zu verkündigen. Als Vorbild diente ihnen Johann Hinrich Wichern, der Begründer des Rauhen Hauses in Hamburg. Wichern war ein wichtiger Vordenker eines umfassenden Konzeptes zur Erneuerung von Kirche und Gesellschaft. Er war davon überzeugt, dass ein Zusammenhang zwischen Armut und Distanz zur Kirche bestehe und setzte sich daher unter anderem für ein Mindestmaß an sozialer Grundsicherung ein, die die Aufnahme der christlichen Verkündigung begünstigen und die Armen in die Kirche zurückholen würde.(3)  Auf Wicherns Anregung hin schlossen sich die zahlreichen Hilfsinitiativen, die bislang ohne Kontakt zueinander standen, auf dem Ersten Deutschen Evangelischen Kirchentag in Wittenberg 1848 zur Inneren Mission zusammen.(4)  Der dazu 1849 gegründete Central-Ausschuss für Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche verstand sich als Dachverband für die bereits bestehenden sozialkaritativen Initiativen und koordinierte die Vernetzung der vielfältigen Vereine. Wichern hatte zahlreiche Kontakte nach Württemberg und nahm an den Kongressen für Innere Mission in Stuttgart 1850, 1857 und 1869 teil.(5) Bei der Südwestdeutschen Konferenz für Innere Mission 1869 kam es zur Bildung eines württembergischen Landesausschusses. Dieser existierte nur wenige Jahre bis 1873 und ging danach in der Evangelischen Gesellschaft auf, die sich vor allem mit missionarischen Traktaten einen Namen gemacht hatte.(6) Die Evangelische Gesellschaft verpflichtete sich, die Aufgaben des Landesausschusses zu übernehmen und die Arbeit sowohl mit dem Central-Ausschuss für Innere Mission in Berlin als auch den anderen Landesverbänden zu koordinieren.(7) Die Evangelische Gesellschaft hatte bereits 1850 auf Anregung Wicherns eine Agentur der Inneren Mission gegründet, die durch Fundraising und Hilfsaktionen die Not linderte und damit „zur zentralen Auskunftstelle für die Innere Mission“(8) wurde.

2: Von der „Landesvereinigung“ zum „Landesverband“

Karl von Römer, der erste Vorsitzende der Inneren Mission

LKAS, Bildersammlung

Zur tatsächlichen Gründung eines württembergischen Landesausschusses kam es schließlich am 14. April 1914. Dabei wurde die Evangelische Gesellschaft beauftragt, die Geschäftsführung der neuen Landesvereinigung für Innere Mission zu übernehmen. Als erster Geschäftsführer wurde Pfarrer Theodor Löffler eingesetzt, der von 1914-1919 wirkte. Der erste Vorsitzende, Geheimrat Karl von Römer, war von 1914 bis 1927 tätig und in Personalunion der Vorsitzende der Evangelischen Gesellschaft.(9) Da die Gründung der Landesvereinigung für Innere Mission nur wenige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges erfolgte, war sie nicht wirklich konsolidiert genug, um die Herausforderungen, die der Krieg mit sich brachte, meistern zu können. Die laufenden Geschäfte übernahm daher weiterhin die Evangelische Gesellschaft. Eine der wichtigsten Aufgaben für den Landesausschuss war es, die diakonischen Einrichtungen durch den Krieg hindurch zu retten, was sich mangels Nahrungsmittel und eingezogener Arbeitskräfte als überaus schwierig gestaltete. Hinzu kam die Versorgung der Soldaten mit Traktaten und die geistliche Betreuung der Kriegsgefangenen. Gegen Kriegsende wurde die Armut, der Hunger und die materielle Not noch viel größer. In diesem Zusammenhang wurden auch Maßnahmen gegen Prostitution und die zunehmende Verbreitung von Geschlechtskrankheiten ergriffen.(10)

Mit dem Kriegsende 1919 übernahm Pfarrer Alfred Schosser die Geschäftsführung und konnte den Landesverband „mit kluger und sicherer Hand durch die schwere Inflationszeit hindurchsteuern.“(11) Sach- und Geldspenden aus Amerika und der Schweiz halfen dabei die Not der Nachkriegszeit zu lindern und zudem den ökumenischen Gedanken zu stärken.

Die institutionalisierte Arbeit der Inneren Mission in Württemberg fand ihren Höhepunkt in dem Zusammenschluss zur Liga der freien Wohlfahrtspflege im Dezember 1924.(12) Darüber hinaus wurde sie 1925 Mitglied im Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge. Im gleichen Jahr gab sich die Landesvereinigung eine neue Satzung und nannte sich ab dem 5. Oktober 1925 „Landesverband der Inneren Mission in Württemberg“. Außerdem wurde sie nun zum eingetragenen Verein.(13) Fünf Jahre später, 1930, hatten sich dem Landesverband 37 Vereine und Fachverbände angeschlossen, sowie 194 einzelne Anstalten.(14)

3: Der Landesverband der Inneren Mission im Nationalsozialismus

Der Nationalsozialismus wurde von der Inneren Mission wie in fast allen kirchlichen Einrichtungen und Werken Württembergs 1933 „dankbar begrüßt“.(15) Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der Armut und der Prostitution ließ den Nationalsozialismus zu Beginn als eine Bewegung erscheinen, die die gleichen Ziele verfolgte. Schon bald musste jedoch festgestellt werden, dass die Nationalsozialisten an einer Erhaltung der Einrichtungen und Werke der Inneren Mission nicht interessiert waren, sondern im Gegenteil, Einrichtungen beschlagnahmten oder auflösten, wie z.B. das Fürsorgeheim Wichernhaus in Cannstatt, dessen jugendliche Zöglinge „in die Betreuung der Erziehungsabteilung des Stuttgarter Wohlfahrtsamtes übernommen“ wurden.(16) Eine christliche Ausrichtung der Erziehung war nicht erwünscht, diese stand vielmehr einer Erziehung zur Wehrtüchtigkeit im Weg. Der Führungsanspruch der Nationalsozialisten zeigte sich nun auch im Erziehungswesen und der gesamten Wohlfahrtspflege.
Mit dem Einfrieren von Staatszuschüssen und Schließungen von Ausbildungsstätten und Kindergärten wurde die Arbeit der Inneren Mission weiter eingeschränkt. Zudem stand die Innere Mission in Konkurrenz mit dem Sammlungswesen der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, der NSV. Ab Herbst 1935 war die Sammlung von Feldfrüchten bei deutschen Bauern ausschließlich dem nationalsozialistischen Winterhilfswerk vorbehalten.(17)

Hinzu kam das Verbot für den Druck und die Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften und kirchlicher Blätter, die es den Gemeinden und Einrichtungen erschwerten, Informationen aus dem Lebensbereich der Kirche und der Inneren Mission zu erhalten. Trotzdem positionierte sich die Innere Mission bei der Landestagung in Calw-Stammheim im Oktober 1936 eindeutig mit ihren „Grundsätzliche[n] Anliegen“ in ihrem Jahresbericht: „Sie die Innere Mission muss Christus-bezogen sein in ihren Dienern und in ihrem Dienst. Dadurch unterscheidet sie sich von menschlicher und völkischer Wohlfahrtspflege. (…) Unsere Anstalten sollen mehr und mehr mit diakonischen Kräften arbeiten, persönlich und sachlich verstanden. Die da und dort bereits vollständige Verweltlichung des Personals mancher unserer württembergischen Anstalten ist eine außerordentlich ernste Degenerationserscheinung.“(18) 

Schloss Grafeneck, Heim für Behinderte der Samariterstiftung seit 1929. Dort wurden 1940 im Rahmen der Euthanasieaktion über 10.000 Menschen durch Gas ermordet.

Fotografin: Ursula Guttmann. Archiv, Bildersammlung, Nr. 4448

Besonders schwerwiegend für die Einrichtungen der Inneren Mission war im September 1939 sowohl der Beginn des Zweiten Weltkriegs als auch der Beginn der geheimen „Aktion T 4“, die systematische Ermordung von psychisch kranken und geistig behinderten Menschen. Diese Aktion nahm mit einem Erlass des Reichsgesundheitsführers Conti am 9. Oktober 1939 ihren Anfang. Alle „Anstaltsinsassen“ der Heil- und Pflegeanstalten, die an „Schizophrenie, Epilepsie, senile(n) Erkrankungen, Schwachsinn, Kriegsbeschädigungen“ leiden(19), sollten gezielt erfasst werden.
Einige Leiter von Heil- und Pflegeeinrichtungen der Inneren Mission versuchten, sich diesem Erlass zur Meldepflicht zu entziehen und ihre Schützlinge nicht auf dem Meldebogen einzutragen, so wie Heinrich Hermann, Inspektor der Taubstummenanstalt in Wilhelmsdorf.(20) Hermann bat den Geschäftsführer der Inneren Mission, Pfarrer Alfons Schosser, um Rat, wie mit den Meldebogen umzugehen sei und erhielt die Antwort: „Sollten die Herren des Innenministeriums dann von Ihnen verlangen, daß Sie den 1. Teil der Liste ausfertigen, so werden wir dem wohl entsprechen müssen.“(21) Diese Haltung ist aus heutiger Sicht schwer nachzuvollziehen, vor allem weil Pfarrer Schosser über die Tötungsvorgänge im beschlagnahmten Samariterstift Grafeneck Bescheid wusste. Dies wird in dem Schreiben vom 2. Oktober 1940 deutlich, das er mit dem Vorsitzenden des Landesverbands der Inneren Mission, Otto Seiz, an den württembergischen Innenminister verfasst hatte: „Von unseren Anstalten der Inneren Mission wurde zuerst die Anstalt Pfingstweide bei Tettnang betroffen, von wo am 1. Februar d. J. 13 Pfleglinge abgeholt wurden. Diese 13 Pfleglinge wurden nach alphabetischer Reihenfolge erfasst und, wie sich kurz darauf aus den Mitteilungen seitens der verwunderten Angehörigen und Pfleger der betroffenen Pfleglinge ergab, nach Grafeneck verbracht. Dort sind sie nach wenigen Tagen gestorben und eingeäschert worden.“(22) Zwar hatte Pfarrer Schosser Hausvater Hermann in seiner widerständigen Aktion nicht unterstützt, setzte sich jedoch in diesem Schreiben an den Innenminister Jonathan Schmid für ein Ende der Tötungen ein: „Die Achtung vor der Würde des Menschen hat es bisher nicht zugelassen, dass dem Leben eines kranken, hilfsbedürftigen Menschen durch menschliches Zutun ein Ende bereitet wird. (…) Im Interesse unseres Staates, unseres Volkes und der gesamten Arbeit an der leidenden Menschheit richten wir an den Herrn Württ. Innenminister hiemit die inständige Bitte, dahin zu wirken, dass alle Massnahmen der oben erwähnten Art grundsätzlich eingestellt werden.“(23) Es dauerte noch dreieinhalb Monate, bis die „T 4 Aktion“ eingestellt wurde. Von Beginn der Tötungsaktion am 18. Januar 1940 bis zu ihrem Ende am 13. Dezember 1940 wurden in Grafeneck 10 654 Menschen ermordet. (24)Jede(r) zweite Patient(in) einer Heil- und Pflegeanstalt Südwestdeutschlands wurde in Grafeneck umgebracht.(25) 

Die Bilanz des Landesverbands der Inneren Mission bei Kriegsende war verheerend: 32 Einrichtungen waren meist durch Fliegerangriffe völlig zerstört, acht Einrichtungen waren schwer beschädig, sämtliche Einrichtungen von den Alliierten beschlagnahmt.(26) Die Gebäude der Evangelischen Gesellschaft in der Oberen Bachstraße, in denen auch der Landesverband der Inneren Mission seit 1914 untergebracht war, wurden beim Fliegerangriff auf Stuttgart im Juli 1944 komplett vernichtet. Nach einer kurzen Zeit der Notunterkunft im Pfarrhaus in Oberensingen konnte der Landesverband ein neues Domizil in der Olgastraße 120 in Stuttgart aufbauen.(27) Auch personell ergaben sich Neuerungen. Nach dem krankheitsbedingt ausgeschiedenen Pfarrer Alfons Schosser übernahm Gotthilf Vöhringer 1944 das Amt des Geschäftsführers. Vöhringer war im Mai 1937 in den Ausschuss der Inneren Mission gewählt worden und war zuvor Generalsekretär der Deutschen Liga der freien Wohlfahrtspflege.(28) Zusammen mit Dr. Antonie Kraut, die als Juristin für Rechtsfragen zuständig war, bildeten die beiden eine Doppelspitze und stellten als Geschäftsführende die Weichen für die Nachkriegszeit.

4: Wiederaufbau und Neubeginn – das Evangelische Hilfswerk der Evangelischen Landeskirche in Württemberg

Deutschland lag nach seiner Kapitulation am 8. Mai 1945 in Trümmern. Große Not zeigte sich in allen Lebensbereichen: ausgebombte Städte, zusammengebrochene Verwaltungen der Kommunen und Landkreise, Nahrungsmittel- und Verbrauchsgüterknappheit aufgrund einer auf Kriegsproduktion eingestellten Wirtschaft, Millionen von gefallenen oder sich in Gefangenschaft befindenden Männern, traumatisierte und körperlich versehrte Menschen, die ihre Kinder, Eltern, Partner, Haus und Hof, alles verloren hatten. Insgesamt starben über 60 Millionen Menschen, mehr als sechs Millionen europäische Juden wurden ermordet. Tausende Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung, politisch Andersdenkende und Homosexuelle wurden verfolgt und getötet. 17 Millionen Menschen waren verschollen.(29) 12 Millionen Menschen aus Mittel-, Ost und Südosteuropa wurden vertrieben(30), weite Teile Europas waren zerstört. In dieser aussichtslosen Lage waren es die Kirchen, deren Strukturen es vermochten schnell zu handeln und Hilfe für die notleidende Bevölkerung zu leisten. Die Evangelische Kirche in Deutschland mit ihrem Ratsvorsitzenden Theophil Wurm, der zugleich Landesbischof in Württemberg war, gründete im August 1945 bei der Konferenz in Treysa das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland. In jeder Landeskirche gab es eine regionale Geschäftsstelle des Hilfswerks, das in allen Kirchenbezirken Bezirksstellen aufbaute, um wirksam Hilfe leisten zu können. In Württemberg wurde die Leitung des Hilfswerks der Evangelischen Landeskirche Wilhelm Pressel übertragen.(31) Unter seiner Ägide entstanden 50 Bezirksstellen(32), die sich um Heimatvertriebene, Kriegsheimkehrer, Kriegsversehrte, Ausgebombte, Flüchtlinge aus der sowjetisch besetzten Zone und andere Notleidende kümmerten. Flüchtlingslager wurden gebaut und sogenannte Bezirksflüchtlingspfleger und Bezirkshelfer und -helferinnen eingestellt. Insgesamt arbeiteten 200 hauptamtliche Kräfte für das Hilfswerk, „die größtenteils außerordentliche Arbeitsleistungen vorweisen konnten.“(33) Für Kriegsversehrte wurde bereits 1945 ein Genesungs- und Versehrtenheim in Oberstenfeld eingerichtet, ein Jahr später bot das Versehrtenheim in Isny 200 Kriegsinvaliden Unterkunft und mit seinen therapeutische Werkstätten wichtige Arbeitsmöglichkeiten.(34) Zudem entwickelte sich 1946 ein neues Aufgabengebiet, die „Auswandererfürsorge“. In Auswanderer-Beratungsstellen fanden Menschen Hilfe, die durch die Nachkriegsverhältnisse keine Existenzgrundlage im überfüllten Westdeutschland finden konnten und sich vor allem in Nordamerika niederlassen wollten.(35)

4.1: Fürsorge für Kinder – Erholungsheime und Knabenheimschule Kleinglattbach

In vielen Heimen herrschte in der Nachkriegszeit drangvolle Enge, so auch im Hfswerks für Flüchtlingskinder Laufenmühle bei Welzheim

Landeskirchliches Archiv, Bildersammlung, U 124

Ebenfalls 1946 Jahr startete auch die Kinderfürsorgeerholung in der Laufenmühle(36) im Welzheimer Wald und in Neufürstenhütte bei Backnang. Kinder, unterernährt und traumatisiert durch Bombennächte und Fluchterlebnisse, wurden zur Erholung aufgenommen. Hinzu kamen noch Kindererholungsheime im Allgäu wie das „Haus Bergfreude“ in Scheidegg und die „Kinderweide“ im Schwarzwald, um durch Klimaveränderung die gesundheitliche Konstitution der Kinder zu stärken. Dabei sollten neben der körperlichen Erholung auch christliche Werte in morgendlichen Andachten und sonntäglichen Kindergottesdiensten vermittelt werden. 


Knabenheimschule Kleinglattbach, Orchesterspiel im Freien

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bildersammlung, U 901,5

Nicht nur Erholung wurde ermöglicht, sondern auch Bildung. Zu Beginn konnten 20 Jungen, die auf der Flucht ihre Eltern verloren hatten, im Februar 1946 in der neugegründeten Heimschule Kleinglattbach aufgenommen werden. Die Schule bot Unterkunft für 65 Schüler, die sich in ihrer Freizeit im Chor und Streichorchester einbringen oder sportlich betätigen konnten. Der Schulbetrieb in Kleinglattbach musste aus finanziellen Gründen seine Arbeit 1949 einstellen. Die Schüler wurden daraufhin an der Landeswaisenanstalt in Schwäbisch Gmünd und im Evangelischen Landeserziehungsheim Urspring untergebracht und konnten dort ihre Schulausbildung vollenden.(37)

4.2: Die Gründung der Jugendaufbaugilden

Mädchengilde Stuttgart

Landeskirchliches Archiv, Bildersammlung, U 942,17

Unzählige Jugendliche waren vom Verlust ihrer Eltern, ihrer Wohnung, ihrer Heimat und ihrer beruflichen Perspektiven betroffen. Sie waren Opfer von Flucht und Vertreibung. Einheimische Jugendliche, die nach Kinderlandverschickung oder Flakzugehörigkeit kein Zuhause mehr vorfanden und sich ihren Lebensunterhalt durch Gelegenheitsarbeiten, Schwarzmarkthandel und Kleinkriminalität verdienten und Jugendliche aus den Vertreibungsgebieten östlich von Oder und Neiße, sollten in die Obhut des Evangelischen Jugendaufbaudienstes genommen werden. Ziel war es, die „an Leib und Seele gefährdeten“(38) Jugendlichen von den Straßen zu holen und mit ihnen in überschaubaren Kleingruppen zusammenzuleben. Diese Lebensform für Jugendliche wurde „Gilden“ genannt, in Anlehnung an die mittelalterlichen Zünfte des Handwerks.(39) Ein Grundsatz in der Arbeit mit den Jugendlichen war „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu geben. Dazu wurden so genannte Gildenmeister ausgebildet, die mit ihren eigenen Familien bei den Jugendlichen lebten und ihnen Beistand und Hilfe sein sollten. Es kam zur Gründung des „Gildenhauses“, der Zentrale der Gildenleitung in Calw-Stammheim. Dort wirkte Hans-Walter Mehlhorn(40) ab August 1950 bis Dezember 1963 als Gildenmeister. Er war verantwortlich für die Rundbriefe „Die Gilde“, in denen alltagspraktische Fragen mit Anregung zur Hilfe und Selbsthilfe aufgegriffen wurden. Mit der praktischen Arbeit der Jugendgilden wurde im Februar 1948 auf Burg Sternenfels bei Heilbronn begonnen. Junge Männer fanden hier Unterkunft, Verpflegung und auf Taschengeldbasis Arbeitsmöglichkeiten in der Aufbauarbeit, z.B. beim Straßenbau, der Trümmerbeseitigung und der Forstwirtschaft. Das gemeinsame Leben sollte aufgrund einer partnerschaftlichen Erziehung zur Demokratie und Mitbestimmung befähigen. Die Mädchengildenarbeit begann erst 1953, nachdem viele Jugendliche aus der DDR geflüchtet waren. Die Mädchengilden boten den weiblichen Jugendlichen Ausbildung für den Haushaltsbereich. Die männlichen Jugendlichen wurden für Arbeiten in Industrie und Handwerk ausgebildet. Außerdem waren Landgilden als offene Jugendgemeinschaftswerke im ländlichen Gebiet gegründet worden. Sowohl weibliche als auch männliche Jugendliche waren bei Landwirten für Stall-, Haus- und Feldarbeiten untergebracht und wurden von Gildenmeistern extern betreut. Ab 1957 etablierten sich Stadtgilden. Durch den raschen wirtschaftlichen Aufschwung bestand ein großer Bedarf an Arbeitskräften. Die Stadtgilden vermittelten vorwiegend männliche Jugendliche in industrielle oder handwerkliche Arbeitensstellen. Ein so genanntes Jungarbeiterwohnheim stand Gildenangehörigen, die beruflich Fuß gefasst hatten, zur Verfügung.(41) Mit dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 versiegte der Flüchtlingsstrom aus der DDR. Von den aufgebauten einundvierzig Gilden bestanden 1963 nur noch elf.(42) Zur Integration in die westdeutsche Gesellschaft wurden vom Evangelischen Jugendaufbaudienst sowohl Wochenendseminare zu gesellschaftspolitischen Themen und religiösen Fragestellungen veranstaltet als auch „Seminarfreizeiten“, die meistens in Südtirol stattfanden. Die Wochenendseminare hatten neben ihrem missionarischen Auftrag auch das Ziel, Bildung und sinnvolles Freizeiterleben zu vermitteln.(43)

Der Schwerpunkt der Arbeit verlagerte sich in den 1970er Jahren auf die Betreuung von spätausgesiedelten Kindern und Jugendlichen, die zuvor mit ihren Eltern als deutsche Minderheit in Polen oder Russland gelebt hatten. Für sie wurde in den Gilden Sprachförderung angeboten, um die Integration in die westdeutsche Gesellschaft zu erleichtern.

4.3: Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirche in Thüringen - die Patenschaftsaktion

Paketesammlung des Hilfswerks für die SBZ, 1953

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bildersammlung, U 943,1

Die Geburtsstunde der Patenschaftsaktion(44) war die Konferenz der Hauptgeschäftsführer der Hilfswerke der Landeskirchen im August 1949 auf Schloss Wolfsbrunnen bei Eschwege.(45) In der sich ständig verschlechternden finanziellen und materiellen Situation der Landeskirchen in der SBZ bzw. im Oktober 1949 gegründeten DDR, wurde eine ernste Gefahr für die Weiterführung der kirchlichen Arbeit gesehen. Zur Unterstützung der östlichen Landeskirchen war das Hilfswerk der EKD darauf bedacht, Patenverhältnisse zwischen den Hauptbüros der Hilfswerke im Osten und im Westen herzustellen. Die Thüringer Landeskirche wurde der württembergischen Landeskirche zugeteilt. Die materielle Unterstützung erfolgte offiziell über Privatpersonen. Kirchliche und diakonische Einrichtungen durften als Unterstützende, durch die in der DDR verabschiedete „Verordnung über den Geschenkpaket- und päckchenverkehr mit Westdeutschland“, nicht in Erscheinung treten.
Die gesamtkirchliche Hilfe des Hilfswerks Württemberg ermittelte über die östliche diakonische Bezirksstelle Eisenach Adressen bedürftiger Personen, die daraufhin mit Textilien, Medikamenten und Nahrungsmitteln unterstützt werden sollten. Ausgetauscht wurden die notwendigen Informationen von Pfarrvikar Köhler aus Eisenach bei „Begegnungen in Berlin“ mit dem Geschäftsführer des Hilfswerks Württemberg, Pfarrer Albrecht Hirth. Württembergische Gemeinden schickten von da an Pakete an ihre Patengemeinde in Thüringen. In der Regel sandten Pfarrfamilien in Württemberg Geschenksendungen an Pfarrfamilien in Thüringen, Mitarbeitende in westlichen diakonischen Einrichtungen an die gleiche Berufsgruppe im Osten.

4.4: Wohnungsnot und Wohnraumbeschaffung

Hilfswerksiedlung Kleinglattbach bei Vaihingen/ Enz. Häuser im Rohbau, 1957

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bildersammlung, Nr. 9645

Die Zerstörung der Städte durch Bombenangriffe hatte eine große Wohnungsnot hervorgebracht. Hinzu kamen die vielen Flüchtlinge und Vertriebenen, die ebenfalls Wohnraum benötigten. Im Sommer 1945 wurden erste Lehmbauhäuser mit Hilfe von Heimatvertriebenen gebaut, die ihre Erfahrungen in dieser Bauweise einbrachten.
Die äußerst beengten Wohnverhältnisse in Flüchtlingslagern veranlasste das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland, 1948 die „Gemeinnützige Siedlungsgesellschaft“ zu gründen. Durch die Zweigstelle der Siedlungsgesellschaft in Württemberg mit Sitz in Stuttgart, konnten bis 1955 etwa 2500 Wohnungen in ganz Württemberg erstellt werden.(46) Zusätzlich entstand das Projekt der sogenannten „Ausbauwohnungen“ in privaten Wohnhäusern, damit dringend benötigter Wohnraum geschaffen werden konnte. In Pfarr-, Gemeinde-, und sonstigen Wohnhäusern wurden Zimmer renoviert und Küchen eingebaut, um möglichst viel Wohnmöglichkeiten für Flüchtlinge und Ausgebombte anbieten zu können.

4.5: Die Hilfskomitees der Heimatvertriebenen

Die Wanderausstellung "Wer wir sind". Blick auf eines der Ausstellungsmodule. Sommer 1948

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bildersammlung, U 954,10

Die Hilfskomitees der Besserabiendeutschen, Dobrudschadeutschen, Ungarndeutschen, Rußlanddeutschen, Jugoslawiendeutschen und Siebenbürger Sachsen gründeten sich, um all denen schnelle Hilfe leisten zu können, die vielfach auf der Flucht ihre Angehörigen und gesamten Besitztümer verloren hatten. Dazu gehörte zum einen materielle Hilfe in Form von Kleidern und Lebensmitteln, zum anderen aber auch die Vermittlung von Arbeitsstellen und Wohnungen. Hilfreich war hierbei die Erfassung aller Vertriebenen auf Karteikarten, die es ermöglichten, verlorengegangene Familienangehörige wieder zusammenzuführen. Die Hilfskomitees fungierten auch als Auskunftsstelle, die berechtigt war, Ersatzurkunden für verlorengegangene Geburts-, Tauf- und Heiratsurkunden auszustellen. Auch Nachweise über zurückgelassenes Vermögen, welche für den Lastenausgleich notwendig waren, konnten über die Hilfskomitees beschafft werden.(47) Nicht zuletzt war die geistliche Betreuung ein Anliegen der Komitees, die mit kirchlichen Freizeiten für Jung und Alt einen Beitrag zur Integration in die örtlichen Kirchengemeinden fördern wollten.

5: Die Innere Mission und das Hilfswerk der Evangelischen Landeskirche in Württemberg auf dem Weg zum Diakonischen Werk Württemberg

Oberkirchenrat Herbert Keller

Foto: E. Feldweg. Aus: Im Dienst der Liebe. Blätter für den Freundeskreis der Inneren Mission und des Evangelischen Hilfswerks in Württemberg, Nr. 4, 1964, S. 17.

Da die Aufgabenfelder von Innerer Mission und Hilfswerk mit ihrer Arbeit am notleidenden Menschen ineinandergriffen, wurde auf EKD-Ebene die Fusion der beiden Werke seit 1957 vorbereitet. Dies wirkte sich auch auf die verschiedenen Landesverbände aus. In Württemberg bildeten die Innere Mission und das Hilfswerk der Evangelischen Landeskirche zusammen mit dem Evang. Landeswohlfahrtpfarramt ab 1950 die „Arbeitsgemeinschaft der diakonischen Werke in der Evang. Landeskirche in Württemberg“.(48) In dieser Arbeitsgemeinschaft blieben die Zuständigkeiten für die jeweiligen Geschäftsbereiche erhalten. Gewisse Rivalitäten(49) und konkurrierende Hilfsmaßnahmen blieben bestehen. Nach der Auflösung des Landeswohlfahrtpfarramtes 1953(50) wurde an der Fusion von Innerer Mission und Hilfswerk weitergearbeitet. Unterstützend war hierbei, dass Oberkirchenrat Herbert Keller, der seit Januar 1946 die Hilfswerk-Zweigstelle im französisch besetzten Tübingen leitete, ab März 1950 sowohl die Geschäftsführung der Inneren Mission als auch die des Hilfswerks innehatte. Als Leiter der „Arbeitsgemeinschaft der Diakonischen Werke der Evangelischen Landeskirche in Württemberg“ war es Kellers Aufgabe, die beiden großen Werke zu Einem zusammenzuführen. Zur Jahreswende 1969/70 wurde aus der Inneren Mission und dem Hilfswerk ein gemeinsames Werk, das Diakonische Werk Württemberg. Der Aufgabenbereich wurde in den 1970er Jahren, neben den traditionsreichen Arbeitsgebieten der Gemeindekrankenpflege, Erziehungs-, und Altenhilfe, ausgeweitet auf die Bereiche der Betreuung von Zivildienstleistenden und Initiierung von Fortbildungsmaßnahmen für Mitarbeitende. Die in den 1960er Jahren begonnenen Intergrationsangebote des Hilfswerks für Gastarbeiter*innen aus den südeuropäischen Ländern, mit Sprachkursen und Versammlungsorten bzw. „Clubheimen“, wurde kontinuierlich für Emigranten aus den unterschiedlichsten Kontinenten fortgesetzt.

Das Diakonische Werk steht bis heute in der Tradition der ursprünglich gegründeten Einrichtungen Innere Mission und Hilfswerk. Es führt die damals begonnenen Arbeitsbereiche mit dem Impetus für gesellschaftliche Teilhabe von benachteiligten und notleidenden Menschen auch im 21. Jahrhundert weiter.

Aktualisiert am: 25.03.2020