Evangelische Heimerziehungsarbeit

Evangelische Heimerziehungsarbeit in den 1950er- und 1960er-Jahren zwischen traditioneller Rettungshausarbeit und reformorientierter Jugendhilfe

Evangelische Heimerziehungsarbeit in den 1950er- und 1960er-Jahren zwischen traditioneller Rettungshausarbeit und reformorientierter Jugendhilfe

Von: Bing- von Häfen, Inga

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Pädagogische Grundprinzipien der Heimerziehung
  2. 2: Öffentliche Jugendhilfe nach 1945
  3. 3: Strukturen evangelischer Heimerziehungsarbeit
  4. 4: Wiederbeginn nach 1945
  5. 5: Personelle Mängel
  6. 6: Bauliche Mängel
  7. 7: Heimpädagogik zwischen reaktionärer Strafmethodik…
  8. 8: … und progressiver Reformanstrengung
  9. Anhang

1: Pädagogische Grundprinzipien der Heimerziehung

Abeitseinsatz bei der Perlzwiebelernte im Kinderheim Stammheim /Calw

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bildersammlung, P 10020

In den ersten Nachkriegsjahrzehnten war die Jugendhilfe der Bundesrepublik zunächst einmal darauf bedacht, ihre ideologischen Grundlagen und damit auch ihre traditionellen Arbeitsmodelle zu konservieren. Viele Elemente des Erziehungswesens stammten bereits aus den Anfängen der Waisenhaus- und Rettungshausbewegung des 19. Jahrhunderts. Vor allem die protestantisch geführten Heime bezogen ihre eigene Identität zu wesentlichen Teilen noch immer aus der Entwicklung des Rettungshauswesens. In diesen Anstalten sollten unversorgte, vermeintlich „sittlich, geistig und moralisch verwahrloste“ Kinder (heute würden sie vermutlich als „Sozialwaisen“ bezeichnet) „gerettet“ werden, sie sollten zu gläubigen Christen und damit zugleich zu treuen Untertanen des Staates werden. Erziehung zu Arbeit, Ordnung, Reinlichkeit, Keuschheit, Gehorsam, Bescheidenheit, Einfachheit, Bedürfnislosigkeit, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit bildete das Normenkorsett – strenge Aufsicht, regelmäßige Arbeit, „rettende“ Liebe, Strafe, Zucht und bisweilen menschliche Härte waren die wesentlichen Erziehungspraktiken. Aus dem Gedanken heraus, dass die Menschheit von Gott für ihre Vergehen und Sünden bestraft würde, dies jedoch ein Zeichen der Liebe Gottes sei, sahen die „Väter“ des Rettungshauswesens den strafenden Erzieher oder Hausvater als „Stellvertreter Gottes“, dem die Kinder widerspruchslos zu gehorchen hatten.(1) Strenge Zucht und körperliche Bestrafung galten als Ausdruck einer vergebenden Liebe und zugleich als wichtiges Mittel zur Buße und als Instrument, die „sittlich verdorbenen“ Kinder an Leib und Seele zu bessern.(2)

Ungeachtet dieses „Rettungsgedanken“ war und blieb das öffentliche Erziehungswesen in erster Linie ein Instrument mit sozialdisziplinierendem Charakter. In die gleiche Richtung zielte auch das in den 1920er Jahren erlassene Reichsjugendwohlfahrtsgesetz. In ihm wurden erstmals umfangreiche Strukturen einer öffentlichen Jugendhilfe einheitlich festgeschrieben. Es beinhaltete den für die damalige Zeit zwar fortschrittlichen Gedanken, dass „jedes deutsche Kind (…) ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“ hätte.(3) In der Praxis jedoch bildeten kontrollierende, eingreifende oder repressive Maßnahmen den Kern der vorgesehenen Maßnahmen. Darin zeigte sich das lange Zeit vorherrschende Verständnis von Jugendhilfe und Jugendfürsorge, das eher als Reaktion auf bereits bestehende, bzw. drohende Missstände, denn auf vorbeugende, helfende Unterstützung ausgerichtet war. Diese Betrachtungsweise sollte sich im Kern erst ab den späten 1960er Jahren grundlegend wandeln, als die Erziehungshilfepraxis eine weitreichende Neuausrichtung erlebte.(4)    

Zwar hatte es bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts erste reformpädagogische Bestrebungen gegeben. Ihre Ideen hatten sich in den evangelischen Institutionen jedoch nicht in größerem Umfang etablieren können und wurden zudem durch die auf Unterordnung, Disziplin, Gehorsam, Fleiß und militärischen Drill ausgerichtete Erziehung in der NS-Zeit vollends wieder in den Hintergrund gedrängt. Für die Heimerziehung nach dem 2. Weltkrieg bedeutete dies, dass ihre Arbeit auf pädagogischen Konzepten beruhte, die große Parallelen mit den Erziehungszielen und -modellen  aus Kaiserreich und nationalsozialistischer Herrschaft aufwiesen.(5) An dieser restaurativen und autoritär ausgerichteten Form von Erziehung sollte sich auch in den Folgejahren zunächst einmal erstaunlich wenig ändern.

2: Öffentliche Jugendhilfe nach 1945

Das Obere Haus auf der Karlshöhe in Ludwigsburg

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bildersammlung, U 435

Ebenfalls nahezu unverändert blieb die Gesetzeslage, auf deren Grundlage eine Heimeinweisung von Kindern und Jugendlichen verfügt werden konnte. Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz wurde zwar 1953 und dann nochmals 1961 novelliert – seine Kerninhalte basierten jedoch nach wie vor auf den ordnungspolizeilichen Vorstellungen des Ursprungsgesetzes aus der Weimarer Zeit. Damit hatten auch zwei seither zentrale Maßnahmen der öffentlichen Jugendhilfe – die Einweisung aufgrund von gerichtlich angeordneter Fürsorgeerziehung (FE), sowie die freiwillige Erziehungshilfe (FEH), die im Gegensatz zur Ersteren ausschließlich im Konsens mit den Eltern durchgeführt werden konnte – im bundesrepublikanischen Jugendhilfewesen weiterhin Bestand.

Zuständig für Anordnung und Durchführung dieser Maßnahmen waren wie bisher die jeweiligen lokalen Jugendämter und Wohlfahrtsbehörden. Laut Gesetz oblag ihnen zudem die Beaufsichtigung der einzelnen Heime. Da es jedoch vielerorts noch bis weit in die 1950er Jahre hinein keine entsprechenden Ämter gab (oder sie unter chronischem Personalmangel litten), wurde diese Kontrollfunktionen weitestgehend an die jeweils zuständigen Trägerverbände delegiert.(6) Für die evangelischen Einrichtungen in Württemberg übernahm diese Aufgabe der Landesverband der Inneren Mission. Der damalige Geschäftsführer Dr. Gotthilf Vöhringer betonte, dass damit die Rolle des Staates auf „gelegentliche Einblicke“ in die allgemeine Arbeit der Häuser beschränkt sei, die Kontrolle der eigentlichen Erziehungsarbeit jedoch voll und ganz in den Händen des Landesverbands liege.(7) Dieser Einfluss wurde jedoch im Zuge der Novelle des Jugendwohlfahrtsgesetzes von 1961 zunehmend beschnitten. Die Behörden wollten nun ihren eigenen Anteil an der institutionalisierten Heimaufsicht effektiv stärken – was von den kirchlichen Verbänden nicht unbedingt mit Wohlwollen betrachtet wurde, fürchteten sie doch einen massiven Verlust der eigenen Kontrollfunktion.(8)

In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten war das Hauptinstrument öffentlicher Erziehung die behördlich angeordnete Heimunterbringung auf der Grundlage der beiden bereits genannten Maßnahmen der freiwilligen Erziehungshilfe (FEH), sowie der Fürsorgeerziehung (FE).(9) Mittels dieser massiven Eingriffe in das Erziehungsrecht von Eltern übernahm die öffentliche Jugendhilfe die Entscheidungshoheit über alle weiteren erzieherischen Maßnahmen. Daneben gab es – offenbar besonders häufig in der unmittelbaren Nachkriegszeit – auch Familien, die die Heimunterbringung ihrer Kinder aus eigenem Antrieb betrieben. Diese so genannten „Privatzöglinge“, die oft nur kurze Zeit in den Einrichtungen verblieben, waren in den Heimen aber bei weitem in der Minderheit. Interessant aber war, dass die Einweisungen auf Grundlage der FEH erst ab den 1950er und 1960er Jahren in signifikanter Weise anstiegen.(10)

Laut gesetzlicher Grundlage wurde öffentliche Erziehung angeordnet, sofern eine „latente oder manifeste Verwahrlosung“ von Minderjährigen vorlag. Aus Sicht der Behörden konnte diese durch unterschiedliche Problemlagen verursacht werden: einerseits durch einen Missbrauch des Erziehungsrechts durch die Eltern (auch in Form einer Nichterfüllung der Pflege-, Betreuungs- und Erziehungsbedürfnisse des Kindes), aber andererseits auch durch offensichtliches (oder unterstelltes) Fehlverhalten der Kinder und Jugendlichen selbst.(11) Auf diese Weise konnten Familien schnell und bisweilen ungerechtfertigt in den Fokus der Jugendämter geraten, denn in der von Normen und festen Erwartungshaltungen dominierten Nachkriegsgesellschaft galt ein vermeintlich deviantes Verhalten rasch als Bedrohung des gesellschaftlichen Wertekanons. Schnelle und nicht selten unverhältnismäßige Behördeneingriffe und restriktive Maßnahmen waren die Folge.

3: Strukturen evangelischer Heimerziehungsarbeit

Kindergruppe vor dem Kinderheim "Heimat für Heimatlose" in Mistlau bei Kirchberg /Jagst

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bildersammlung, U 180

Während der nationalsozialistischen Herrschaft hatten speziell konfessionelle Einrichtungen um ihre Existenz bangen müssen. Fast 20 Einrichtungen der evangelischen Erziehungsfürsorge waren zur anderweitigen Verwendung behördlich beschlagnahmt worden. Etliche weitere wurden im Krieg entweder stark beschädigt oder komplett zerstört.(12) Nach 1945 gelangten jedoch die meisten dieser entkonfessionalisierten Häuser rasch wieder in den Besitz ihrer ursprünglichen Träger zurück und so ließ der Wiederbeginn des Anstaltslebens nach Kriegsende nicht lange auf sich warten.(13) Nimmt man das Zeitfenster bis zum Beginn der 1970er-Jahre in den Blick, gab es in jener Phase rasch wieder über 40 Kinder- und Jugendheime in evangelischer Trägerschaft mit den verschiedensten Arbeitsschwerpunkten – nicht mitgezählt sind Einrichtungen der Behindertenhilfe, reine Wohnheime für junge Erwachsene sowie Einrichtungen der Kindererholung.(14) Etwa zwei Drittel dieser Häuser konnten auf eine bis ins 19. Jahrhundert reichende Rettungshaustradition zurück blicken.(15)

Grundsätzlich waren – und sind – die Anstalten rechtlich eigenständige Institutionen, die von Vereinen, Stiftungen oder auch juristischen Personen getragen wurden. Ihre Zugehörigkeit zur Inneren Mission zeigte sich durch die Mitgliedschaft im gleichnamigen Landesverband, dem heutigen Diakonischen Werk Württemberg. Der Landesverband war in der Regel nicht im Besitz eigener, von ihm selbst betriebener Erziehungsanstalten, sondern fungierte als verbindender Dachverband.(16) Innerhalb des Verbands begründeten die Erziehungsanstalten bereits im Jahr 1868 eine gemeinsame Interessenvertretung. Aus diesen fortan regelmäßig durchgeführten „Hausväterkonferenzen“ entstand in den 1920er-Jahren mit dem Landesverband evangelischer Erziehungsanstalten in Württemberg ein eigener Fachverband unter dem Dach der Inneren Mission, der bis heute durch regelmäßige Zusammenkünfte ein wichtiges Medium für Informationsaustausch und Koordinierung der Jugendhilfe-Arbeit darstellt.(17)

Die Erziehungseinrichtungen, die für den gegebenen Zeitrahmen relevant sind, lassen sich grob in drei Kategorien unterteilen: Heime für Säuglinge und Kleinkinder, Heime für schulpflichtige Kinder und Heime für die schulentlassene Jugend, also für Minderjährige ab dem Alter von 14 Jahren. Zusammen genommen besaßen sie eine Aufnahmekapazität von etwa 3500 bis 4000 Plätzen, wobei weit über die Hälfte davon Kindern im Schulalter vorbehalten war. Etliche Einrichtungen, wie zum Beispiel der Lindenhof in Geislingen an der Steige, das Heim in Stammheim bei Calw, die Wilhelmspflege in Stuttgart-Plieningen oder auch die Sophienpflege Tübingen standen Kindern fast aller Altersklassen offen. Somit gab es in rund 30 Häusern Plätze zur Aufnahme von Säuglingen und Kleinkindern. Etwa gleich viele Heime nahmen Schulpflichtige auf. Ungefähr zwei Drittel dieser Einrichtungen verfügten zudem über eine eigene Heimschule – zumeist waren dies reine Volksschulen, mitunter aber auch Hilfs- oder Sonderschulen. Mit Heimen verbundene Mittel- und höhere Schulen blieben hingegen die Ausnahme.

4: Wiederbeginn nach 1945

Alltag in der Nachkriegszeit: Kinderleben zwischen Trümmern

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bildersammlung, U 109

Die Bemühungen um rasche Etablierung von geregelten und kontinuierlich gesicherten Heimbetrieben fanden vor dem Hintergrund eines weit verbreiteten Massenelends und eines massiven Flüchtlingsproblems statt, von dem auch Kinder und Jugendliche außerordentlich stark betroffen waren. Millionen von Menschen hatten im Krieg ihre Heimat verloren. In den ersten Nachkriegsjahren gab es in Westdeutschland schätzungsweise 80-100.000 heimat- und elternlos umherziehende Minderjährige, hinzu kam in der Folgezeit eine nennenswerte Zahl von jugendlichen Vertriebenen und Flüchtlingen aus der sowjetisch besetzten Zone.(18) Heimatlosigkeit und Flüchtlingselend trugen somit nicht unerheblich dazu bei, dass die Heime nach 1945 quasi aus dem Stand einen regelrechten Ansturm neuer Insassen zu bewältigen hatten. Da die bestehenden Häuser die Masse der Kinder und Jugendlichen kaum aufzunehmen in der Lage war, entstanden in dieser Phase in Württemberg sogar einige neue Heime. Als Beispiele erwähnt seien an dieser Stelle das 1947 in Betrieb genommene Landheim „Burg Lichtenberg“ im Kreis Heilbronn sowie das Kinderheim „Lindenhof“ in Geislingen an der Steige.(19)

Für manche Kinder war die Heimunterbringung nur ein kurzes Intermezzo: beispielsweise, um den Aufenthalt in den schlecht beleumdeten Flüchtlings- und Barackenlagern zu vermeiden oder bei Krankheit der Mutter. Andere hingegen verbrachten ihre gesamte Kindheit in – oftmals sogar wechselnden – Heimen. Speziell diese Heimwechsel waren für den Einzelnen mit immensen psychischen Belastungen verbunden: Sie bedeuteten Verlassen des alten, vertrauten Umfelds und der dortigen Freunde sowie Einfinden in ein neues Heim, Gewöhnung an neue Bezugspersonen und neue Regeln, aber auch das Erobern eines Platzes in der internen Hierarchie der Kindergruppe.

5: Personelle Mängel

Diese Nachkriegsperiode war auch eine Zeit des anhaltenden Personalmangels. Die Mitarbeiterschaften waren während des Krieges deutlich ausgedünnt, aber an eine umgehende – angesichts der deutlich steigenden Belegungszahlen eigentlich zwingend erforderliche – Aufstockung der Mitarbeiterschaft war vorerst nicht zu denken. Angesichts des anhaltenden Mangels waren die Heime genötigt, auch auf pädagogisch nicht ausreichend ausgebildetes, vielfach auch komplett berufsfremdes, Personal zurückzugreifen.(20) Selbst Praktikanten wurden als vollwertige Arbeitskräfte eingesetzt, bisweilen sogar ohne längere Einarbeitungszeit und entgegen jeder Vernunft auch komplett eigenverantwortlich.(21) Obwohl die 1954 in Reutlingen eingerichtete Evangelische Schule für Heimerziehung und ein breit gefächertes Programm an berufsbegleitenden Aus- und Fortbildungsmaßnahmen den Qualifikationsstandart des Heimpersonals sukzessive heben sollten, blieb das Heimleben noch über Jahre hinweg geprägt von chronischem Mitarbeitermangel und beständiger Überlastung des vorhandenen Personals.(22)    

Obwohl die Erkenntnis, dass eine pädagogische Ausbildung unabdingbare Voraussetzung für die Tätigkeit im Erziehungsbereich sein sollte, hinkte die Praxis weit hinterher. Noch 1969 verfügte laut einer exemplarischen Bestandsaufnahme in 43 Heimen nur etwa die Hälfte des dort eingesetzten Personals über einschlägige Fachausbildungen.(23) Zudem war die Heimerziehungsarbeit ein Bereich mit verhältnismäßig hoher Fluktuation innerhalb der Mitarbeiterschaft. Darunter litt die erzieherische Praxis: So mussten sich die Kinder häufig auf neue Bezugspersonen einstellen, die jeweils eigene Regeln und individuelle Erwartungshaltungen mitbrachten.

6: Bauliche Mängel

In vielen Heimen herrschte in der Nachkriegszeit drangvolle Enge, so auch im Hfswerks für Flüchtlingskinder Laufenmühle bei Welzheim

Landeskirchliches Archiv, Bildersammlung, U 124

Eine Vielzahl der württembergischen Heime konnte 1945 bereits auf eine lange Geschichte zurückblicken – nicht wenige von ihnen stammten sogar aus dem 19. Jahrhundert. Dies bedeutete jedoch, dass die meisten Einrichtungen auch nach Ende des 2. Weltkriegs noch immer in jenen Gebäuden logierten, in denen sie einst ihre Arbeit begonnen hatten. Nach langen Jahren des Modernisierungs- und Investitionsstaus befanden sie sich nach Ende des 2. Weltkrieges zumeist auf dem gleichen baulichen Zustand wie noch vor dem Jahr 1933. Ihre Ausstattung war oftmals komplett veraltet und wies – zumal auf sanitärem Gebiet – deutliche Mängel auf. Die Folge dessen war, dass Heimkinder und Mitarbeitende mit kargen und meist zu engen Räumlichkeiten Vorlieb nehmen mussten und dies vielfach noch über Jahre hinweg. Noch im Jahr 1961 sollte das Heim in Lichtenstern anlässlich seines 125. Jubiläums für eine Pressebesichtigung geöffnet werden. Im Vorfeld besichtigte der Psychologe des Landesverbands der Inneren Mission, Dr. Mausshardt, gemeinsam mit dem Leiter der dortigen Pressestelle, Pfarrer Tondock,das Haus. Letzterer riet danach von der Einladung der Presse ab. Infolge der bestehenden Raumnot seien die Unterkünfte der Kinder äußerst eng belegt, die Schlafzimmer seien in ihrer „Ansehnlichkeit“ sehr unterschiedlich und nicht zuletzt offenbarte der „unzulängliche Zustand einiger Aborte, das offensichtlich mangelhafte Funktionieren der dort vorhandenen Geruchsverschlüsse und dergleichen“. Alle diese Mängel würden „bei einer Presse-Führung zwangsläufig peinlich auffallen“.(24)    

In dieser Phase, die sowohl innerhalb der Heime als auch für den Rest der Bevölkerung mit Elend, Not, der Abhängigkeit von wohltätigen Spenden aus dem Ausland verbunden war, wurde der Renovierungs- und Modernisierungsbedarf der Heime zwar erkannt – aber es fehlten die finanziellen Mittel für wesentliche Neuerungen. Vielerorts wurde zwar schon seit den 1950er Jahren eifrig geplant, umgesetzt werden konnten diese millionenschweren Bauprogramme jedoch zumeist erst in den 1960ern. Nicht selten wurden die bisherigen unzulänglichen Gebäude komplett aufgegeben und durch architektonisch anspruchsvolle und den neuesten Erkenntnissen der konzeptionellen Heimpädagogik entsprechende Neubauten ersetzt.(25) Allerdings hielt sich in fachwissenschaftlichen Kreisen noch lange Zeit eine hartnäckige Diskussion darüber, ob moderne Häuser unabdingbare Voraussetzung für gelingende Heimerziehung seien. Immer wieder mahnten kritische Stimmen, dass durch die teuren Bauprogramme die dringend benötigten Finanzmittel für die Schaffung einer atmosphärisch angenehmen und pädagogisch ansprechenden Innenausstattung fehlen würden.

7: Heimpädagogik zwischen reaktionärer Strafmethodik…

Richtungsweisend in der Erziehung blieben auch nach 1945 jene bereits genannten althergebrachten Ideale wie Zucht, Gehorsam, Disziplin, Abhärtung, Kontrolle, Ordnung und Sauberkeit.  Diese pädagogische Ausrichtung galt zu jener Zeit jedoch nicht ausschließlich für die Heimerziehung, sondern bildete auch die wesentlichen Ziele der in den meisten Familien praktizierten Erziehung ab. Ziel dieser von Strenge, Unnachsichtigkeit und Zucht dominierten Pädagogik war das gehorsame, angepasste – untergeordnete – Kind.  

Was bedeutete dies nun für den Alltag der in den Heimen untergebrachten Kinder und Jugendlichen? Die Erinnerungen ehemaliger Heimkinder zeigen oftmals ein wenig anheimelndes Bild. Geblieben sind Berichte über fehlende emotionale Zuwendung, wenig individuellen Freiraum, einen bisweilen militärisch anmutenden Umgangston und nicht zuletzt über regelmäßige Anwendung körperlicher Strafmethoden. Heimleben vollzog sich zudem hauptsächlich im Kollektiv. Die Kinder bekamen kaum Möglichkeiten, sich Freiräume zu schaffen und eigenständig über die Gestaltung ihrer Zeit (auch ihrer Freizeit) zu entscheiden. Mitverantwortlich dafür war die Tatsache, dass sie täglich in nicht unerheblichem Umfang zur Mitarbeit in Haus- und Landwirtschaft der Heime verpflichtet waren.

Oberste, den Tagesablauf streng reglementierende Leitlinie des Alltags bildete die Heimordnung. Verstöße gegen deren Vorschriften wurden unnachgiebig sanktioniert. So gehörten die unterschiedlichsten Strafmaßnahmen zum festen Bestandteil des Alltags der Kinder. Auch freches und aggressives Verhalten, Entweichungen, mutwillige Sachbeschädigung oder Arbeitsverweigerung boten Anlass zur Bestrafung. Dabei galt die körperliche Züchtigung lange Zeit als unentbehrliches Erziehungsmittel, das in weiten Teilen der Bevölkerung befürwortet und auch von vielen Eltern selbst ganz selbstverständlich angewandt wurde.(26) Eltern waren als Erziehungsberechtigte vom Gesetzgeber dazu ermächtigt, ihre Kinder „angemessen“ körperlich zu züchtigen. Aber auch das Heimpersonal hatte bei der Anwendung körperlicher Zuchtmittel lange Zeit das Recht auf seiner Seite. Noch das württembergische Ausführungsgesetz zur Novelle des Jugendwohlfahrtsgesetzes von 1963 gestattete den Protagonisten der staatlichen Erziehungsgewalt die Durchführung körperlicher Bestrafung. Diese Regelung basierte auf dem Gedanken, dass Heimerziehung „Erziehung kraft Übertragung“ war. Die elterliche Erziehungsgewalt ging demgemäß mit all seinen Inhalten uneingeschränkt auf das Erziehungspersonal in den Heimen über.(27) Doch gab es auch – zumindest in der Theorie – Grenzen und Regeln für den erlaubten Umgang mit körperlichen Strafmethoden. Auf der Jahrestagung des Evangelischen Reichserziehungsverbands 1965 wurde zur Klarstellung ausgeführt, dass „maßvolle Ohrfeigen“  und sogar Schläge an den Kopf zulässige Zuchtmittel seien. Das gleiche galt auch für Schläge auf das Gesäß. Geschlagen werden durfte entweder mit der Hand oder dem Stock. Die Nutzung anderer Gegenstände wie Schlüsselbunde, Lineale, Metallstäbe oder auch die Verabreichung von Fußtritten waren ausdrücklich nicht erlaubt. Nicht einmal auf eine besondere Geheimhaltung musste geachtet werden, denn die Spuren von Züchtigungen durften sogar sichtbar sein, denn „…blaue Flecken, leichte Schwellungen und Striemen allein brauchen nicht unbedingt schädlich sein“.(28)

Wären diese Regeln und Einschränkungen bei der praktischen Anwendung körperlicher Zucht allerorts streng befolgt worden, hätte es demütigende und sadistische Strafen, aber auch übermäßige Gewalt- und Misshandlungsorgien, von denen viele Zeitzeugen heute berichten, nicht geben dürfen. Dass es derartige Überschreitungen der Züchtigungsbefugnis aber dennoch regelmäßig gegeben hat und dass die juristisch definierte Grenze zur Körperverletzung in vielen Heimen verletzt wurde, darf als erwiesen betrachtet werden. Juristisch geahndet wurden diese Verstöße jedoch nur sehr selten, denn nur wenige dieser Vorfälle gelangten überhaupt zur Anzeige. Auch der für die Heimaufsicht verantwortliche Landesverband der Inneren Mission wurde mehrheitlich nur dann eingeschaltet, wenn eine „skandalöse Anzeige“ drohte, die dem Ansehen der evangelischen Heimerziehungsarbeit in der Öffentlichkeit schaden konnte.(29) Allerdings fehlte es den meisten Heimkindern vermutlich an entsprechenden Vertrauenspersonen und an der gesellschaftlichen Lobby, um erlittene Misshandlungen bei den Behörden anzuzeigen. Geschah dies dennoch, so verhängten die Gerichte zumeist kaum nennenswerte Strafen, was sicher auch auf die nicht klar definierten Begriffsbestimmungen und Abgrenzungen zwischen erlaubter körperlicher Zucht und verbotener Körperverletzung im Amt infolge einer Überschreitung des Züchtigungsrechts zurückzuführen war.(30)       

Zum alltäglichen Erleben der Heimkinder gehörten aber auch verschiedene Disziplinierungsmaßnahmen, die die freie Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der Kinder beschränkten. Dazu konnten Kleider- und Frisurenvorschriften, die selbstverständliche Kontrolle ein- und ausgehender Post, aktive Beschränkung der Kontakte von Heimkindern zur Außenwelt aber auch das Verbot der freien Literaturwahl gehören. So informierte der Hausvater des Martinshauses Kleintobel: „Immer wieder notwendig werdende Konfiskation von Gedrucktem aus Koffern und Paketen veranlassen mich zu der nachfolgenden Bitte. Wir räumen diese Schriften aus und vernichten sie mit der Begründung, dass es im Martinshaus sauber sein müsse und der Nachdruck hier auf anderen Dingen liege.“(31)  Obgleich viele dieser Maßnahmen selbst nach Ansicht von Zeitgenossen „unverhältnismäßige Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht“ der Kinder darstellten und damit eigentlich nicht verfassungskonform waren, blieben sie in vielen Heimen dennoch an der Tagesordnung.(32)

Heimerziehung war bis weit in die 1960er Jahre hinein zu großen Teilen auf den Erhalt von Traditionen bedacht. Aber auch angesichts vermeintlich vorrangiger Alltagsprobleme stand die Realisierung grundlegender Veränderungen oder neuer pädagogischer Konzepte zunächst im Hintergrund. Heimerziehung bedeutete deshalb nach wie vor in erster Linie ausschließlich Bewahrung der Kinder. Zeit und Raum für die Entwicklung individueller Neigungen und Fähigkeiten war Mangelware.(33) Der Heimalltag zeichnete sich vielmehr durch eine „straffe Zucht“, verbunden mit regelmäßigen, beinahe schon selbstverständlichen, Gewalterfahrungen, aus. Zwar war die Situation in den Heimen und der alltägliche Umgang mit den Kindern schon seit den 1950er Jahren immer wieder angeprangert worden, unter anderem durch Zeitungsberichte, ein Jahrzehnt später auch durch Aufsehen erregende Befreiungsaktionen. Allerdings neigten die Verantwortlichen in den Heimen dazu, diese Form der Kritik als Einzelmeinungen linksgerichteter und extremistischer Gruppierungen abzuwerten. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den geäußerten Kritikpunkten sollte erst im Zuge einer in den 1960er Jahren mit wachsender Intensität betriebenen fachwissenschaftlichen Diskussion, die sich in unzähligen Publikationen und themenspezifischen Referaten auf Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen niederschlug, stattfinden. Dies markierte den Beginn eines langwierigen Reformprozesses, der grundlegende konzeptionelle Veränderungen der gesamten Jugendhilfestruktur beinhaltete.

8: … und progressiver Reformanstrengung

Dementsprechend beinhaltete das „Wildbader Memorandum“ – erarbeitet vom württembergischen Landesverband Evangelischer Erziehungsheime im Jahr 1970 als Reaktion auf die vielfältige Kritik an der Heimerziehung – konkrete Empfehlungen zur baulichen und strukturellen Umgestaltung der Heime, sowie Forderungen nach Anstellung ausreichend qualifizierten Personals. Doch weitaus bedeutsamer für den Alltag der Kinder war die zu dieser Zeit erstmals geäußerte Forderung nach Demokratisierung des Heimwesens. Auch das Memorandum bezeichnete die demokratische Struktur als „einzig verantwortbare“ Heimstruktur.(34) Freie Entfaltung der Persönlichkeit und Befähigung der Kinder zur Eigen- und Mitverantwortung wurden nun zu zentralen Bestandteilen der Heimpädagogik erklärt. Allerdings sollte es noch etliche Jahre dauern, bis das Reformbewusstsein allerorten anerkannt und notwendige Veränderungen großflächig realisiert werden konnten. Die Umwandlung von der „Bewahranstalt“ Kinderheim hin zur Jugendhilfeeinrichtung moderner Prägung war ein langwieriger Entwicklungsprozess, der zu Beginn der 1970er Jahre erst an seinem Anfang stand.

Doch auch der begonnene Reformprozess sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass die Heimerziehung bis dahin viele Generationen von Kindern hervorgebracht hat, die kaum ausreichend Rüstzeug mitbekommen haben, um im Leben „draußen“ zu bestehen. Durchbrochene Biographien, wechselhafte Lebenswandel, Heimat- und Haltlosigkeit zeugen davon, dass nicht wenige ehemalige Heimkinder der Nachkriegsperiode zeitlebens mit vielgestaltigen negativen Auswirkungen ihrer Heimunterbringung zu kämpfen haben.  

Aktualisiert am: 20.07.2015