Christliche Kunst in Südwestdeutschland: 19. und 20. Jahrhundert

Von: Pelizaeus, Anette

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Die kontroversen Auseinandersetzungen um den evangelischen Kirchenbau
  2. 1.1: Der theologische Umbruch
  3. 1.2: Die Gründung des Vereins für christliche Kunst in Württemberg
  4. 1.3: Das „Eisenacher Regulativ“
  5. 1.4: Das Wiesbadener Programm
  6. 2: Stilwandel im Sakralbau: Raumkonzeption und Ausstattung anhand ausgewählter Kirchenbauten in Württemberg
  7. 2.1: Kirchen nach dem „Eisenacher Regulativ“
  8. 2.2: Die Jugendstilkirchen
  9. 2.3: Kirchen nach dem Wiesbadener Programm
  10. 3: Skulptur
  11. 3.1: Freiplastik
  12. 3.2: Kanzeln
  13. 3.3: Kruzifixe, Tisch- und Altarkreuze
  14. 3.4: Taufsteine und Taufbecken
  15. 3.5: Portale
  16. 4: Malerei
  17. 4.1: Decken- und Wandmalerei
  18. 4.2: Glasmalerei
  19. 5: ZUSAMMENFASSUNG
  20. Anhang

1: Die kontroversen Auseinandersetzungen um den evangelischen Kirchenbau

1.1: Der theologische Umbruch

1809 wurde der altwürttembergische Gottesdienst auch auf die neuwürttembergischen protestantischen Gebiete übertragen, die teils von der lutherischen, teils von der reformierten oder aus einer Mischform aus beiden Richtungen bestimmten Gottesdienstform geprägt gewesen waren.(1) Insbesondere seit den 1830er Jahren regte sich aber immer mehr Kritik gegen die Gottesdienstordnung und es mehrten sich die Stimmen, die eine liturgische Neuregelung des Gottesdienstes forderten.(2) Es wurde beanstandet, dass der Kanzelaltar die Bevorzugung der Kanzel gegenüber dem Altar und dem dort erteilten Sakrament bewirke und man äußerte sogar, dass der Altar gegenüber der Kanzel missachtet würde. Diese Ansicht führte zu einem antiaufklärerischen theologischen Umbruch, der zunächst in der Erweckungsbewegung und schließlich im sogenannten „Neuluthertum“ formuliert wurde, und zwar einhergehend mit der Ablehnung des protestantischen Kirchenbaues des 17. und insbesondere des 18. Jahrhunderts.(3) Man betrachtete die in dieser Zeit entstandenen Kirchen als profane Räume, forderte die Abkehr vom profanen Kirchenraum und die Hinwendung zu einem neuen protestantischen Sakralraum, in welchem einerseits der Altarraum vom Gemeinderaum und andererseits der Altar von der Kanzel deutlich sichtbar voneinander getrennt sein sollten, um eben die besondere Bedeutung des Altares als Ort des Sakraments hervorzuheben. In diesem Sinne kam es zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst einmal zu einer Rückbesinnung auf den byzantinischen, romanischen und klassizistischen Stil, der zum Rundbogenstil bzw. Kameralamtsstil führte, bis Anfang der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts der Kölner Dom vollendet wurde und damit erneut die Gotik als dem eigentlichen Kirchenbaustil in den Fokus der Diskussionen um den richtigen Kirchenbau rückte.(4) Die These vom gotischen als dem wahren christlichen Baustil war bereits Ende des 18. Jahrhunderts in England aufgekommen, setzte sich aber mit dem Bau der Hamburger-Nicolaikirche auch in Deutschland immer mehr durch.(5) Dementsprechend forderte man bei der Liturgischen Konferenz von 1856 in Dresden in insgesamt 20 Thesen insbesondere die inhaltliche Rezeption des Mittelalters als Bauprinzip für den protestantischen Kirchenbau, die Ausrichtung der gesamten Kirchenanlage nach Osten, die Erhöhung und Abtrennung des Altarraumes als gesondert ausgebildeter Chorraum vom Gemeinderaum, die Trennung von Altar und Kanzel, die ihrerseits seitlich des Altares platziert werden sollte sowie die Aufstellung von Beichtstühlen, letzteres bedingt durch den Einfluss des Katholizismus.(6) 

1.2: Die Gründung des Vereins für christliche Kunst in Württemberg

Infolge des wachsenden Interesses an der Förderung christlicher Kunst, das sich insbesondere bei der am Rande des Elberfelders Kirchentages 1851 stattfindenden Konferenz über „die bildende Kunst in der evangelischen Kirche“ zeigte, fasste man die Bildung verschiedener Lokalvereine unter einem Zentralausschuss zusammen.(7)

1857 erfolgte dann auf Initiative des Stuttgarter Oberhofpredigers Carl von Grüneisen nach dem Vorbild des 1852 gegründeten Berliner Vereins für religiöse Kunst die Gründung des Vereins für christliche Kunst in Württemberg, der am 9.2.1857 mit Beschluss der genehmigten Statuten von den Mitgliedern des Konsistoriums, des heutigen Oberkirchenrates, konstituiert wurde.(8) Die Statuten zeigen, dass der Schwerpunkt des Vereins in der Einrichtung und Ausstattung der Kirchen lag und es vornehmlich darum ging, die Gemeinden bei Neubauten, Umbauten, Restaurierungs- und Ausstattungsfragen zu beraten, was dann in der Satzung des Vereins von 1882 noch deutlicher zum Ausdruck kam.(9)

Zu den Mitbegründern des Vereins zählte auch Christian Friedrich Leins(10), der bis 1892 Mitglied im Ausschuss und zugleich Hauptberater des Vereins in architektonischen und künstlerischen Fragen war.(11) 1878 trat auch sein Schüler Hans Dolmetsch(12) dem Ausschuss bei, der nach dem Tod Leins 1892 bis 1908 die Hauptberaterfunktion im Verein wahrnahm. Mit dessen Tod 1908 schwand der Einfluss der Leinsschule auf den württembergischen Kirchenbau und somit die Bauweise in Rückbesinnung auf romanische und gotische Stilelemente. Nachfolger von Dolmetsch wurde zunächst Theodor Fischer und nachfolgend dessen Schüler Martin Elsaesser, der den württembergischen Kirchenbau der beiden nachfolgenden Jahrzehnte durch seine Hinwendung zum Jugendstil, zur Neuen Sachlichkeit und zum Expressionismus entscheidend prägte.(13) Der Verein hatte die Funktion der Kunstberatung für die Landeskirche und die genannten Architekten standen den Gemeinden als Fachleute zur Seite, während Rudolf Lempp, Wilhelm Jost und Hans Seytter als Hauptberater in allen Kunst- und Baufragen fungierten und darüber hinaus auch finanzielle Beihilfen bei Bauvorhaben oder der Beschaffung von Altargeräten oder Paramenten gewährten.(14) 

1.3: Das „Eisenacher Regulativ“

Nach den auf dem Kirchentag in Barmen 1860 entwickelten 25 Thesen(15) über den evangelischen Kirchenbau, in denen unter anderem festgelegt wurde, dass zu einer Kirche auch ein Chor gehöre, in welchem der Altar stehen und die Kanzel seitlich vor dem Chor angeordnet werden solle, wurde dann auf der vom 30.5.-5.6.1861 tagenden Kirchenkonferenz in Eisenach unter Beteiligung der Architekten August Friedrich Stüler (Berlin), Christian Leins (Stuttgart), Ernst Friedrich Zwirner (Köln) und Conrad Wilhelm Hase (Hannover) ein „Regulativ“ aufgestellt, das man allgemein als das sogenannte „Eisenacher Regulativ“ bezeichnet.(16) Das Programm, in welchem die Grundform des evangelischen Kirchenbaus festgeschrieben wurde, umfasst insgesamt 16 Punkte und sah nun folgendes vor: Eine evangelische Kirche solle als dreischiffiger längsrechteckiger Bau mit Querhaus und einem leicht erhöhten Chor im Osten gestaltet werden. Der Haupteingang solle gegenüber dem Chor gelegen sein, der Turm ebenfalls im Westen und zwar entweder über dem Eingang oder seitlich desselben. Der Altar solle im Chor, nicht aber an dessen Rückwand stehen und er solle mit einem Kruzifix versehen sein. Die Kanzel sei nicht im Chor, und zwar weder hinter noch über dem Altar aufzustellen, sondern sie sei bei kleineren Kirchen an einem Pfeiler des Chorbogens, bzw. bei größeren Kirchen an einem der östlichen Pfeiler des Mittelschiffes anzuordnen. Die Orgel müsse auf der Empore über dem Haupteingang ihren Platz haben, allerdings dürfe die Empore nicht den Blick durch das Kirchenschiff zum Chor hin versperren. Außer der westlichen Empore sollen weitere Emporen allenfalls an den Längsseiten des Kirchenbaues angebracht werden, jedoch keinesfalls im Chor, um den freien Blick in den Chor nicht zu stören. Darüber hinaus wurde bestimmt, dass die Kirchenstühle in der gesamten Kirche so anzuordnen seien, dass Altar und Kanzel während des gesamten Gottesdienstes zu sehen seien. Schließlich wurde noch angeführt, dass die Kirche auch über eine Sakristei in Gestalt eines Anbaues neben dem Chor verfügen solle.

 

1.4: Das Wiesbadener Programm

Seit etwa 1880 formierte sich indes seitens des prosperierenden liberalen Lagers des Luthertums, der Reformierten und des Kunsthistorikers und Architekten Cornelius Gurlitt (1850-1938) Protest gegen das sogenannte Eisenacher Regulativ.(17) Es wurde beanstandet, dass der kreuzförmige neugotische Longitudinalbau nicht die Bedürfnisse eines protestantischen Kirchenraumes erfülle, in dem jedermann die Predigt gut hören und die liturgischen Handlungen am Altar durch eine gute Sicht nachvollziehen könne. Gurlitt forderte vielmehr die Anpassung des Kirchenraumes an die Erfordernisse der Liturgie und führte in diesem Sinne auch die Rückbesinnung auf den Baustil des Barock ins Feld.(18) Genährt wurde diese Kritik durch den Vortrag des Dresdener Pfarrers Emil Sulze über den evangelischen Kirchenbau mit der Frage nach der Ausrichtung der evangelischen Kirche im gesellschaftlichen Kontext des 19. Jahrhunderts.(19) Für ihn stand weniger eine bestimmte Stilrichtung des Kirchenbaus oder ein bestimmter Repräsentationsbau als vielmehr die lebendige Gemeinde im Vordergrund, für die eine Gemeindekirche ohne strikte Trennung zwischen Altar- und Gemeinderaum von wesentlicher Bedeutung sei.(20) Die Gemeinde, so konstatierte er, brauche eine Kirche, in der sie neben dem Gottesdienst auch all ihre gemeindlichen und sozialen Aktivitäten zusammenfassen könne und propagierte dementsprechend den Gruppenbau bzw. das Gemeindezentrum mit verschiedenen Gebäudekomplexen, die flexibel und je nach Bedarf größer oder kleiner, mit mehr oder weniger Bauten zu planen seien. In der gegenüber den übrigen Bauten des Gemeindezentrums herausgehobenen Kirche sollte sich die Gemeinde um den Altar versammeln können, wobei der Kanzel der gleiche Stellenwert wie dem Altar zuzumessen und sie dementsprechend auch in der Nähe desselben zu platzieren sei.

 

Entsprechend diesen Vorstellungen versuchten 1891 der Wiesbadener Pfarrer Emil Veesenmayer und der Berliner Architekt Johannes Otzen anlässlich der Errichtung einer dritten evangelischen Kirche in Wiesbaden die Tradition der funktionalen Predigtkirche wieder aufleben zu lassen und veröffentlichten das Wiesbadener Programm(21), in welchem sie folgendes festhielten: Die Kirche ist Versammlungshaus einer Gottesdienst feiernden Gemeinde, wobei die Einheit der Gemeinde durch die Einheitlichkeit des Raumes zum Ausdruck gebracht werden soll, und zwar ohne Raumteilung in mehrere Schiffe oder durch eine Untergliederung in Chor und Langschiff. Da die Feier des Abendmahls mitten in der Gemeinde stattfinden soll, bedarf der Altar einer besonderen Stellung innerhalb der Kirche, der von allen Seiten möglichst gut sichtbar zu sein habe. Die Kanzel sei mindestens gleichwertig mit dem Altar zu betrachten und zudem mit der im Angesicht der Gemeinde anzuordnenden Orgel- und Sängerbühne organisch zu verbinden.

 

Aufgrund der nun einsetzenden Diskussion um das Für und Wider der ein und der anderen Seite(22), wobei man in Württemberg mehrheitlich weiterhin am „Eisenacher Regulativ“ festhielt, erfolgte 1898 eine Überarbeitung des „Eisenacher Regulativs“ durch die XXIII. Deutsche evangelische Kirchenkonferenz für den Bau evangelischer Kirchen in Eisenach, jedoch ohne das sog. „Eisenacher Regulativ“ grundsätzlich in Frage zu stellen.(23) Man hielt weiterhin an dem um einige Stufen erhöhten und gewölbten Chorraum fest und empfahl noch immer den Anschluss an die historischen Baustile als Vorbild für die christliche Kirche. Beim 2. Kongress für den Kirchenbau des Protestantismus in Dresden 1906 unter dem Vorsitz von Pfarrer Dibelius und Cornelius Gurlitt, an welchem auch Martin Elsaesser teilnahm, löste man sich von der im 19. Jahrhundert gängigen Praxis der Vorschreibung bestimmter als christlicher oder kirchlicher definierter Stile für den Kirchenbau zugunsten der Vorstellung eines allgemein einheitlichen „Zeitstiles“ ohne spezifische Benennung der Formen.(24) Zudem rückte man von der Vorstellung des Kirchenraumes als Zweckbau ab, was zur Folge hatte, dass nun die künstlerische Gestaltung zur Steigerung des Raumausdrucks an Bedeutung gewann.(25) Gurlitt formulierte diesen Leitgedanken in seinem ebenfalls 1906 erschienen Handbuch der Architektur in folgendem Satz: „Die Darstellung des Glaubens der Gemeinde vor Gott und vor sich selbst wird als das Wesen des Gottesdienstes anerkannt. Darstellung aber ist Kunst. So sollte der protestantische Gottesdienst Kunst sein: Kunst des Wortes, Kunst des Tons, Kunst der Form.“(26) Die Form sollte sich also aus dem Zweck ergeben, diesem angepasst sein und in diesem Sinne dem Gegenstand Form verleihen. Der Raum wurde nun als übergreifende Gesamtheit angesehen, der in beliebiger Form dem Zweck angemessen gestaltet und gruppiert werden konnte.

 

Diese Leitgedanken prägten auch die XXIX. Eisenacher Kirchenkonferenz, in der man auf jegliche formale Festlegung verzichtete und lediglich „ernste und edle Einfachheit in Gestalt und Form“ im Rahmen eines einheitlichen Ganzen forderte.(27) Die Stilfrage blieb vollkommen offen, man empfahl lediglich die Konzeption eines auch im Außenbau sichtbaren Chores für die Feier des Abendmahls, für Konfirmationen oder Trauungen, ohne dies aber in irgendeiner Form vorzuschreiben. Die Stellung von Altar und Kanzel wurde darüber hinaus gar nicht thematisiert und auch die Frage der Platzierung von Orgel und Sängerchor allenfalls vage behandelt.(28) Beim Westdeutschen Kursus für Kultus und Kunst in Marburg 1924 hielt Martin Elsaesser ein Referat, dessen Thesen als „scharfe Thesen“ in die Kirchenbaugeschichte eingingen.(29) Elsaesser kritisierte, dass es aufgrund eines nie klar definierten Raumideals der evangelischen Kirche noch immer keinen Typus des evangelischen Kirchenbaus gebe und forderte die klare Einräumigkeit mit der Tendenz zur Zentralität unter Wahrung der Trennung zwischen der großen Predigtkirche mit profanem Charakter und der kleinen Feierkirche mit sakralem Charakter. Dieses additive Bauprinzip äußerte sich in seiner Konzeption der Esslinger Südkirche mit einem rechteckigen, lichtdurchfluteten und flachgedeckten Predigtraum, an den sich eine kleine kreisförmige Feierkirche mit überfangendem Rabbitzgewölbe und kleinen, farbig verglasten Fenstern, durch das gedämpftes Licht einströmt, anschließt.(30) Der stimmungsvolle halbdunkle Feierraum steht also in starkem Kontrast zum lichtdurchfluteten Predigtraum, wodurch sich eine zweigliedrige Kirchenform im Sinne einer Kirche als geistige und symbolische Kraft ergibt.(31)

 

Eben gerade aufgrund dieser Überlegungen setzte sich das Wiesbadener Programm auch in Württemberg spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig durch.(32) In der Zeit zwischen 1957 und 1966 entstanden nun neue Kirchenbauten mit deutlicher Tendenz zum kirchlichen Gemeindezentrum mit einem differenzierten Raumprogramm, das neben der Kirche in der Regel einen Gemeinderaum, Clubräume für Jugendliche und Erwachsene, Kindergarten und Wohnungen für kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umfasst.(33) In diesen neuen Baukonzeptionen, die den Wandel von der Sonntagskirche zur Alltagskirche dokumentieren, wird die Verflechtung kirchlicher Einrichtungen mit dem öffentlichen Leben, und zwar sowohl hinsichtlich des sozialen Engagements als auch der Freizeitgestaltung, offenkundig.(34) Gemeinde und Altarbereich rücken einander näher, die Prinzipalstücke werden ohne Trennung in die Versammlung der Gemeinde einbezogen. Aufgrund dieser liturgischen Grundprinzipien werden die Räume breiter, starre Symmetrie und axiale Ausrichtung des Kirchenraumes werden vermieden, Grund- und Aufriss werden unter Einbeziehung plastischer Wandflächen und Öffnungen vollkommen frei gestaltet. Ziel dieser offenen Konzeption ist eine räumliche Durchbildung mit differenzierter Lichtführung, die mit raffinierten Gestaltungsmitteln eine auffallende Tendenz zur Monumentalität und Feierlichkeit zugleich aufweist.(35) Die Kirchen sind nun Festräume des Wortes(36), ihre Sakralität ergibt sich durch die vielfältigen architektonischen Gestaltungsmittel, die jeden Kirchenbau zu einem individuellen Ort der Gottesdienstfeier machen. Da der Kirchenbau keine städtebaulich herausragende Funktion mehr erfüllt, gilt es das Bauensemble von Kirche und Gemeindezentrum durch die architektonische Qualität von der Umgebung zu differenzieren, weshalb auch die Verwendung bestimmter Baustoffe immer wichtiger wird. Auch der Kirchturm ist nicht mehr in erster Linie repräsentatives Element, sondern Bauglied, das mehr und mehr als Glockenträger und weniger als Turm verstanden wird.(37) 

 

2: Stilwandel im Sakralbau: Raumkonzeption und Ausstattung anhand ausgewählter Kirchenbauten in Württemberg

2.1: Kirchen nach dem „Eisenacher Regulativ“

Entsprechend des sog. „Eisenacher Regulativs“ wurde beispielsweise die Lutherkirche in Bad Cannstatt(38) von den Architekten Richard Böklen und Carl Feil 1898-1900 neu erbaut. Der Innenraum ist durch die dreischiffige Anlage mit dem Rechteckchor mit flachem Chorschluss im Osten, dem breiten Mittelschiff und den beiden schmalen Seitenschiffen ungleicher Breite sowie durch die Empore auf der West- und Nordseite geprägt. Im Gegensatz zum Außenbau, der in Backstein ausgeführt wurde, zeigt der Innenraum Kalk- und Sandstein. Der Chor, das Mittelschiff und das nördliche Seitenschiff über den Emporen sind kreuzrippengewölbt, das nördliche Seitenschiff unterhalb der Empore ist pultdachgedeckt und das südliche Seitenschiff zwischen den quer gestellten Rundbögen flachgedeckt. Das Mittelschiff wird einerseits durch die kleinen Fenster des Arkadengeschosses und die breiten und gleichsam hohen Obergadenfenster in Gestalt von spitzbogig schließenden Drillingsfenstern beleuchtet. Die Arkaden zeichnen sich durch den alternierenden Wechsel zwischen einfachen und gekuppelten Rundstützen mit überaus mächtigen Kapitellen aus, auf denen breite Segmentbogen ruhen. Die Emporenbrüstung ist mit Blendmaßwerk verziert. Die gekuppelten Stützen werden im Emporengeschoss in Höhe der Brüstung wieder aufgenommen, hier sind sie indes deutlich höher, denn auf ihnen ruhen die Gurt- und Diagonalbögen sowohl des Haupt- als auch des nördlichen Seitenschiffes. Alle Gliederungselemente des Kirchenraumes sind farbig in den Tönen Grau, Ocker und Rosa gefasst, insbesondere sei hier der Chorbogen erwähnt, der mit einem geometrischen Muster in den Formen des Jugendstils verziert ist. Die Ostseite des Chores ziert ebenso wie die Obergadenfenster eine wiederum spitzbogig schließende Dreifenstergruppe. Der Altar befindet sich im Chor, die Kanzel auf der Südseite des Chorbogens und der Taufstein auf der Langhaussüdseite, vor der Kanzel. Die Orgel auf der Westseite wird demgegenüber von einer großen Rosette hinterfangen, wobei das Orgelprospekt Rücksicht auf die Form der Rosette nimmt.

Ebenfalls entsprechend des „Eisenacher Regulativs“ wurde 1894/1895 die Andreaskirche in Stuttgart Uhlbach von Heinrich Dolmetsch umgebaut.(39)Die Chorturmkirche war in Gestalt einer flachgedeckten Saalkirche mit östlichem Chorquadrat und südlich sich anschließender Sakristei erbaut worden, wobei ein niederer Chorbogen den niederen Chor vom höheren, westlich des Chores sich anschließenden Langschiff trennte. Dolmetsch ersetzte zunächst die flachgedeckte Balkendecke über dem Kirchenschiff durch ein gesprengtes hölzernes Spitztonnengewölbe, wodurch der Raum enorm an Höhe gewann.(40) Er platzierte entsprechend des sog. „Eisenacher Regulativs“ die Kanzel am nördlichen Chorbogenpfeiler, den Altar im Westen des Chores, den Taufstein vor der Kanzel, die Orgel auf der Westempore und die Kirchenbänke in Ausrichtung auf die Prinzipalstücke, so dass durch diese Anordnung die Konzentration des Betrachters auf Altar und Kanzel sehr gut gegeben war. Die aus Balken, Leisten und Paneelen sich zusammensetzende Holzdecke ist neben unterschiedlichen Ornamentstreifen mit verschiedenen Darstellungen als Symbole für den Kosmos bemalt. So sind die Apostel Sinnbilder für die Kirche, die Tugenden stehen für das christliche Volk, die Reben für die Natur sowie Sonnen, Sterne und Sternbilder für das Universum. Durch die Erhöhung der Raumdecke erhöhte sich nun auch die Ostwand des Kirchenschiffes über dem niedrigen Chorbogen, der seinerseits jedoch nicht auch erhöht werden konnte, da dies aus statischen Gründen auch eine Erhöhung des Chorgewölbes erfordert hätte. Eine architektonische Lösung für die überdimensionale Höhe der Ostwand war also unerlässlich und Dolmetsch löste dieses Problem insofern, als er über den Segmentbogen des Chorbogens einen zweiten, spitzbogig schließenden, auf zwei Rechteckpfeilern ruhenden Blendbogen setzte. Dieser ist gegenüber der Wand erhaben, die Wand gegenüber dem Blendbogen also eingetieft. In das westliche Bogenfeld setzte Dolmetsch das bisher auf dem Dachboden befindliche, vermutlich aus dem 16. Jahrhundert stammende Kruzifix, dessen Abschlüsse des Längsbalkens genau an die Bogenscheitel von Spitz- und Segmentbogen stoßen. Das Kruzifix ist von einer Mandorla hinterfangen, die nicht skulpiert ist, sondern aus einem aufgemalten Strahlenkranz besteht. Das Binnenfeld der Mandorla und des Bogenfeldes um die Mandorla herum sind ebenso wie die Archivolten mit Ornamentmalerei, bestehend aus Weinreben und Passionsblumen, verziert. Hoch oben im Bogenfeld der östlichen Kirchenschiffwand zieht Christus den Blick auf sich und steht somit im Zentrum des über ihm dargestellten Kosmos.(41) So wird also durch das Bildprogramm einerseits und die Platzierung der Prinzipalstücke entsprechend des sog. „Eisenacher Regulativs“ andererseits der Blick auf den Chor hin ausgerichtet und somit Kirchenschiff und Chor miteinander verbunden. Im Chorgewölbe erscheinen vier Propheten mit Spruchbändern, die vom Kommen des Messias zeugen. Die Halbfiguren wachsen vor einem Himmel mit Sternen und Sonnen aus Kelchen eines Rebengeflechts hervor. Die Propheten sind Sinnbilder für die Vorfahren Jesu in Gestalt eines Stammbaums, aus dem in mittelalterlichen Darstellungen die Halbfiguren aus Zweigen herauswachsen.(42) Dolmetsch entwarf für die Uhlbacher Andreaskirche indes nicht allein die Raumkonzeption und das Bildprogramm, sondern darüber hinaus auch die Gestalt der Prinzipalstücke, der Emporen, der Kniebank und die gesamte Ornamentik von Spitztonne, Fenstergewänden und Fliesen, um nicht allein eine Verbindung von Architektur und Bildprogramm, sondern auch von Architektur und Ausstattung zu schaffen, die dem gesamten Raum Einheit und Klarheit verschafft, die den Kirchenbesucher zur Ruhe, zu sich selbst und zu Gott kommen lassen sollte.

2.2: Die Jugendstilkirchen

Die 1908-1910 von Theodor Fischer im Jugendstil errichtete Pauluskirche in Ulm(43) richtet sich hinsichtlich ihrer Bau- und Raumkonzeption gegen das sog. „Eisenacher Regulativ“. Schon der Grundriss des in Nachfolge der Pfullinger Hallen (1904-1907), der Dorfkirche in Gaggstadt (1904-1906), des Pfullinger Schönbergturms (1905-1906) und der Stuttgarter Erlöserkirche (1906-1908) errichteten Kirchenbaues ist in Umkehrung des traditionellen Schemas gegliedert. Der Eingang befindet sich in der westlichen Apsis, die mit einer umlaufenden Zwerggalerie und von einem außen verdeckten Lichterband versehen ist, während der gerade schließende Chor zwischen zwei mächtigen Treppentürmen im Osten gelegen ist, wobei diese Baugruppe von außen wie ein mächtiges „Westwerk“ wirkt. Die Ostseite wird durch Obergadenfenster belichtet, der eingetiefte Altarraum mit davor befindlicher Altarmensa ist durch zwei Betonstützen in drei Öffnungen gegliedert.(44) Zwischen der westlichen Apsis und der östlichen Baugruppe befindet sich das Kirchenschiff, das zwar noch die traditionelle basilikale Baugestalt aufweist, obschon das Hauptschiff aufgrund der äußerst schmalen Seitenschiffe einen wahrhaft saalartigen, nicht aber basilikalen Eindruck macht, zumal die beiden Seitenschiffe mit 12 niedrigen Arkaden einen lediglich schmalen Gang bilden. Der Saalraum wird in seiner Breite zusätzlich durch querlaufende Stahlbetonbinder betont und die Raumtiefe durch das Vorziehen der rückwärtigen gestaffelten Empore überspielt.(45) Im Sinne der Zentrierung der liturgischen Orte befindet sich rechts neben dem Altarraum die Kanzel, links der Taufstein.(46) Fischer kehrt also das traditionelle Raumschema insofern um, als die östliche Chorapsis zum westlichen Eingang und das klassische „Westwerk“ zum Chor wird. Auch das basilikale Raumverhältnis vom Mittelschiff zu den Seitenschiffen wird insofern verändert, als das Mittelschiff enorm an Breite gewinnt, die Seitenschiffe indes zu schmalen Gängen reduziert werden. Die Raumkonzeption in Fischers Kirchenbau öffnet sich also dem Bauideal des neuzeitlichen Protestantismus, ohne indes die überkommenen Raumideen vollkommen aufzugeben.

Dies trifft auch für die Kirchenbauten von Martin Elsaesser zu, als dessen wichtigste Werke die Stadtpfarrkirche Stuttgart-Gaisburg von 1913 und die Südkirche in Esslingen von 1919 bzw. 1925/1926 gelten mögen, die beide ebenfalls im Jugendstil errichtet sind. Bei der Stadtkirche in Stuttgart-Gaisburg, nach dem Entwurf für Lichtental das zweite Projekt von Martin Elsaesser, zeigt sich sehr deutlich die Abwendung vom Prinzip der Raumaddition und der Zuwendung zum Prinzip der Raumintegration und Durchdringung von verschiedenen Raumanlagen.(47) Der Grundriss des Kirchenbaues, sich auszeichnend durch eine westliche Vorhalle mit darüber sich erhebendem Turm und seitlich begleitenden Treppenaufgängen, das östlich sich anschließende Kirchenschiff, die östliche Chorapsis und die südlich des Chores sich anschließende Sakristei, besteht in der Gestalt des Kirchenschiffes aus der Zusammenfügung von insgesamt zwei eigentlich gänzlich differierenden Raumkonzepten, so nämlich des kreuzförmigen Longitudinalbaues in Gestalt einer dreischiffigen Anlage mit dem ovalen Zentralraum. Dabei bildet der kreuzförmige und gleichsam dreischiffige Longitudinalbau die äußere Hülle des Kirchenbaues, in welche der längsovale Zentralraum im Inneren integriert wird. Die Kreuzförmigkeit wird dabei insofern aufgehoben, als das Längsoval den einstigen Chor mit Chorapsis hinter dem Querhaus ersetzt und gleichzeitig eine Tangente mit den Seitenschiffen bildet. Das Längsoval zeichnet sich durch insgesamt 10 Stützen aus, deren vier östliche mit den Stützen der Seitenschiffe verschmelzen, während die westlich sich anschließenden Stützen ovalförmig in den rechteckigen Raum gestellt sind. Parallel zum westlichen Pfeilerpaar sind in östlicher Richtung zwei zusätzliche Stützen gestellt, um den Kirchenraum in seiner Longitudinalität zu steigern und damit gleichzeitig dem Längsoval wieder an Dominanz zu nehmen. Dementsprechend sind alle Raumteile als gleichwertig zu betrachten, obschon eine Ausrichtung auf den Chor noch deutlich intendiert und eine letztendliche Raumverschmelzung noch nicht gegeben ist.(48) Der Außenbau zeigt im Gegensatz zu dem ovalen Kern des Innenraumes den rechteckigen Baukörper mit monumentalem Turm, einzig durch die tempelartige Hauptfassade mit abschließendem Dreieckgiebel, die Risalite, Lisenen, Maßwerkstellungen und Fensterordnungen in den seitlichen Fassaden aufgelockert, jedoch kommt hier noch keine Übertragung des zentralen Innenraumes auf den Außenbau zustande und bleibt noch zukünftigen Gestaltungskonzepten überlassen.(49)

Die nach einem Entwurf einer „Kleinen Volkskirche“ von Martin Elsaesser 1925/1926 erbaute Südkirche in Esslingen setzt sich aus einem Predigtraum in Gestalt eines dreischiffigen Longitudinalbaues mit flacher Holzbalkendecke und einem östlich sich anschließenden Feierraum in Gestalt eines gewölbten Rundbaues zusammen, dessen westliche Tangente durch den Anschluss an den Predigtraum konkav eingeschwungen ist.(50) Dieser Bogen ist durch einen kräftig profilierten Rahmen eingefasst und zudem durch zwei kurze Wandpfeilervorlagen hervorgehoben.(51) Unter diesem Bogen steht der sowohl von der Predigt- als auch der Feierkirche zu nutzende Altar, der als Bindeglied zwischen den beiden Raumteilen fungiert. Der Rundbau der Feierkirche, die nicht die Höhe des Predigtraumes erreicht, aber dafür Platz für Empore und Sängerbühne bietet, wird von einer vieleckig gebrochenen Außenmauer umschlossen, wobei zwischen dem Rundbau und dem Polygon ein schmaler Chorumgang vermittelt, der auf der Nordseite die Flucht des Langhausseitenschiffes aufnimmt.(52) Rundbogenarkaden öffnen sich von hier aus in runder Stellung zum Zentralraum hin, der per se nicht direkt beleuchtet ist. Das einzige Licht nämlich fällt durch kleine, stark farbig verglaste Fenster der Außenwände, wodurch sich durch den Umgang ein Lichtkreis ergibt, der den Feierraum von oben her beleuchtet und im Erdgeschoss in diffusem Licht bleibt.(53) Über den Arkaden erhebt sich das Gewölbe, dessen einzelnen Gewölberippen in alternierender Höhe ansetzen, wodurch die Wand mit dem Gewölbesystem verschmilzt. Die dreischiffige, durch Arkaden gegliederte Predigtkirche zeichnet sich durch ungleich breite Seitenschiffe aus. Das nördliche Seitenschiff ist durch drei tiefe, tonnengewölbte Nischen gegliedert, die durch rundbogige Durchgänge miteinander verbunden werden, so dass ein schmaler Laufgang zur seitlichen Bestuhlung des Mittelschiffes entsteht.(54) Das südliche Seitenschiff ist breiter, hier finden sich quergestellte Bestuhlungsreihen, die zur Außenmauer hin ansteigen und durch eine hölzerne Brüstungswand vom Mittelschiff abgetrennt sind. Das Arkadengeschoss zeichnet sich durch breite gedrückte Rundbogenfenster, über denen jeweils zwei kleine Hochrechteckfenster angeordnet sind, während der Obergaden allein durch schmalhohe Rechteckfenster gegliedert ist. Sowohl im Arkadengeschoss als auch im Obergaden werden die großen Fenster von vertikal aufsteigenden Wandvorlagen begleitet, wodurch die Vertikalität der Fassaden trotz des breiten Gesimses zwischen Arkadengeschoss und Obergaden deutlich betont wird. Der gesamte Kirchenbau ist in Backstein ausgeführt, doch hellt eine plastisch hervortretende Horizontalverfugung das Mauerwerk auf und belebt es, je nach Lichteinfall, zugleich. Die verputzten Wände und Decken der Seitenschiffe sind mit einer Schablonenmalerei in Pastelltönen verziert, welche die einzelnen Wände in unterschiedliche Rechtecke auflöst.(55) Die Schablonenmalerei steht in starkem Kontrast zu der kräftig graublauen Farbfassung der Arkadenlaibungen, der Seitenschiffspfeiler und der Altarrahmung, wodurch die einzelnen Gliederungselemente der Raumteile stark voneinander abgehoben werden. Die graublaue Farbgebung zeigt auch die Bestuhlung, hier jedoch in unterschiedlichen Tonwerten, die den Innenraum optisch beleben. Die Expressivität der einzelnen Raumteile durch die architektonische Gestalt von Feier- und Predigtraum wird also durch die jeweilige Farbgebung und Lichtdurchflutung noch umso mehr gesteigert. Die innere Raumpluralität wird indes durch die Komposition des Außenbaues aufgehoben, denn über Predigt- und Feierraum zieht sich ein einheitliches Satteldach, das die beiden Raumteile unweigerlich miteinander verbindet. So wird folglich die Differenzierung der beiden Raumteile im Inneren durch die Zusammenziehung im Außenbau einerseits, aber darüber hinaus auch durch die beidseitige Nutzung von Altar, Orgel und Empore aufgehoben. So steht die unterschiedliche liturgische Nutzung von Feier- und Predigtraum zwar deutlich im Vordergrund der Raumkonzeption der Esslinger Südkirche und doch sind auch raumverbindende Elemente erkennbar, die als durchaus zukunftsweisend anzusehen sind.

2.3: Kirchen nach dem Wiesbadener Programm

Fellbach, Melanchthonkirche. Innenraum

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Inventarisation, Inv.-Nr. 47332.1.001-00

Bei den Kirchen, die nach dem Wiesbadener Programm entstanden sind, tritt die Verschmelzung von Kirchenschiff und Chor mehr und mehr in den Vordergrund, wie zum Beispiel die Melanchthonkirche in Fellbach, die Martin-Lutherkirche in Bietigheim-Bissingen, die Versöhnungskirche in Leonberg-Ramtel oder die Sommerrainkirche in Bad Cannstatt zeigen. 

Die 1962-1964 erbaute Melanchthonkirche in Fellbach(56) ist eine Saalkirche in Gestalt eines Zeltes, die über dem Grundriss eines unregelmäßigen Sechsecks errichtet ist. Sie weist zwei lange Seiten im Westen und Osten, sowie zwei jeweils kurze Seiten im Norden und Süden auf. Der Baukörper setzt sich aus dem Erd- und dem offenen Dachgeschoss zusammen, das jedoch auf den Giebelseiten im Norden und Süden unterschiedlich gestaltet ist. Der Raum spitzt sich von Nordosten zum Altar im Südwesten hin zu, so dass der Blick nach Betreten des Innenraumes auf den Altar hin konzentriert wird. Lichtstreifen in der Technik der Glasmalerei trennen das Erd- vom Dachgeschoss und bilden entsprechend der Langseiten des Raumes Querstreifen in der Längsrichtung des Raumes, während sie auf den beiden Giebelseiten entsprechend der Form des Giebels ansteigen und in der Spitze zusammenlaufen. Insofern dienen die Lichtstreifen der Hervorhebung des Altares auf der Südseite sowie der Orgelempore mit der Orgel auf der Nordseite. Die Last des steil aufragenden Daches ruht auf den beiden Langseiten des Raumes auf dreieckförmigen Stahl- und Betonträgern der  gegenüber der Dachtraufe vorgezogenen Wände des Erdgeschosses. Da sie demzufolge den Lichtstreifen vorgelagert sind, bilden sie für diese ein zusätzliches Gliederungselement.


Bietigheim-Bissingen, Martin-Luther-Kirche. Innenraum

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Inventarisation, Inv.-Nr. 05322.1.0001-00

Die 1966-1968 erbaute Martin-Luther-Kirche in Bietigheim-Bissingen(57) ist eine Saalkirche, deren Seiten von ungleicher Länge und Höhe sind und zudem nicht rechtwinklig aufeinandertreffen. Von Westen nach Osten wird die Kirche schmäler, so dass der Blick von hinten nach vorn gezogen wird. Dieser Eindruck wird zudem dadurch gesteigert, dass die Südseite eine Glasfront bildet, die durch vertikal angeordnete Buntglasfenster entstanden ist. Die parallel nebeneinander geordneten, hellen Buntglasfenster leiten den Blick von Fenster zu Fenster zu Altar, Kreuz und Kanzel. Ein von der Saalkirche abgesetzter Chor existiert nicht, ein solcher ist nur insofern angedeutet, als der Altar durch erhöhten Klinkerboden von der Saalkirche mit Keramikplatten abgesetzt ist. Auf der Nordseite des Kirchenraumes befinden sich zwei Türen, die in die Sakristei und einen Nebenraum führen, östlich schließt sich mit einem kleinen Vorbau die Orgel an. Der Fußboden besteht aus Keramikplatten, die Wände sind weiß getüncht. 


Leonberg-Ramtel. Versöhnungskirche. Innenraum

Archiv des Vereins für christliche Kunst / Verein für Kirche und Kunst

Die Versöhnungskirche in Leonberg-Ramtel(58) wurde 1965 von Heinz Rall erbaut. Sie zeichnet sich durch schiefe Wände aus, die in mehreren Teilen ineinander verschoben und in verschiedenen Winkeln aneinandergefügt sind. Altar und Kanzel stehen an einer Wand, vor der die Kirchenstühle in Ausrichtung auf diese beiden Prinzipalstücke angeordnet sind, während rechts neben der Kanzel Gestühl in Ausrichtung auf die seitliche Orgel platziert ist. Die Wand hinter Altar und Kanzel ist also selbst nicht als Chorwand auszumachen und wird allein durch die Prinzipalstücke als solche markiert. Sie wird indes noch zusätzlich durch die Lichtstreifen hervorgehoben, die sich durch die voreinander geschobenen Wände ergeben und indirektes Licht auf die Chorwand werfen. Der Altar in Gestalt eines Tischaltares ist per se nur daran erkennbar, dass über ihm eine symbolische Dornenkrone von Hans Peter Fitz aus dem Jahr 1965 schwebt. 


Bad Cannstatt, Sommerrainkirche. Innenraum

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Inventarisation, Inv.-Nr. 12130.1.001-00

Der Innenraum der 1966 eingeweihten Sommerrainkirche in Bad Cannstatt(59) erhebt sich über dem fünfseitigen Grundriss und ist vornehmlich durch Sichtbeton geprägt, der das Innere klar und nüchtern erscheinen lässt. Der fünfseitige Grundriss bewirkt, dass die Westwand gerade ist, die Seitenwände indes diagonal verlaufen, wobei sich die beiden westlichen Außenwände nach außen öffnen, während die beiden östlichen Seitenflanken auf die östliche Spitze hin zulaufen. Durch diese Komposition wird der Blick automatisch von Westen, wo sich der Eingang befindet, nach Osten zum Altar hin ausgerichtet. Die Zentrierung auf den Altar hin wird auch durch die dreiteilige Deckenkonstruktion betont, die in Diagonalen zum östlichen Scheitelpunkt stark ansteigt. Lichtstreifen aus Glas, die am oberen Abschluss des Kirchenraumes angeordnet sind und somit zwischen Kirchenraum und Decke liegen, heben dies noch einmal deutlich hervor. Die Westempore, unter welcher der Eingang ins Kircheninnere liegt,  ist im Innenraum über Treppenaufgänge im Norden und Süden zugänglich. Auf der Westseite und den beiden diagonal gestellten westlichen Seitenwände durchbrechen längsrechteckige Glasfelder die Betonwand, so dass genügend viel Licht in den Kirchenraum dringen kann. Die Glasfelder der Seitenwände sind noch zusätzlich mit Farbglasfenstern versehen, die ebenfalls den Blick zum Altar hin ziehen. Einen eigens für den Altar vorgesehenen Raum gibt es nicht, doch da der Altar im östlichen spitzen Winkel  auf einem runden Podest steht, ist dieser durch die räumliche Zuspitzung und durch den Podest hervorgehoben. Der Podest hebt sich insofern vom übrigen Fußboden hervor, als er aus Beton besteht, den übrigen Fußboden hingegen aus rotem Klinker. Südlich des Altars steht der Ambo, der gleichzeitig auch als Kanzel fungiert, nördlich des Altars befindet sich das Taufbecken, wobei allein der Altar auf dem Podest steht. 

3: Skulptur

Da die Kirchen des 19. Jahrhunderts in Württemberg in der Mehrheit keine Neubauten waren, sondern vornehmlich im Sinne des Historismus restauriert wurden, existieren aus dieser Epoche in erster Linie Kruzifixe, die entweder in Gestalt großer, hinter dem Altar aufgestellte Kruzifixe, als frei über dem Altar schwebende Kruzifixe oder als Tischkruzifixe hergestellt wurden, wobei letztere auch für die Sakristeien der vielen württembergischen Stadt- und Pfarrkirchen angefertigt wurden. Zudem bedurfte es im Zuge der Innenrestaurierungen auch an vielen neuen Altären und Taufsteinen, die ebenfalls im Stil des Historismus mit romanisierenden oder regotisierenden Formen geschaffen wurden.(60) Es wurden darüber hinaus auch Emporenbrüstungen oder Kanzeln erneuert und dafür bisweilen neue Skulpturen gearbeitet, wie beispielsweise der Salvator mundi(61) als Abschluss des neugotischen Kanzeldeckels der Cyriakuskirche in Bönnigheim aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt. Erst mit Ausklang des 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert kommt es insofern zu einer neuen bauplastischen und freiplastischen Phase, als im Zuge der Neubauten nach dem „Eisenacher Regulativ“ oder den Jugendstilbauten diese auch komplett neu ausgestattet werden mussten. Dasselbe gilt übrigens auch für die nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen Kirchenbauten, die ebenfalls einer ihnen zeitgemäßen Einrichtung bedurften. 

3.1: Freiplastik

Bad Cannstatt, Lutherkirche, Lutherstatue

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 12105.1.013-00

Im Sinne der Schaffung von Skulpturen für tatsächliche Neubauten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zeigt beispielsweise die Lutherkirche in Bad Cannstatt auf der Nordseite zwischen Chor und Langschiff auf einem Sockel stehend die Standfigur Martin Luthers, die 1900 von Emil Kiemlen für die Kirche geschaffen wurde. Die von Frau Ottilie Umrath, geb. Köstlin gestiftete Standfigur(62) steht auf einem hohen, reich profilierten und mit Laub- und Akanthusfries gegliederten Sockel, über der eine hohe, ebenfalls profilierte Plinthe ruht. Die Figur Martin Luthers steht frontal ausgerichtet in Ponderation mit vorgestelltem rechtem Bein auf Sockel und Plinthe. Er hat die aufgeschlagene Bibel in seiner Linken und zeigt mit seiner Rechten auf eine Bibelstelle, über die er gerade nachsinnt, was einerseits durch seine seitliche Blickrichtung in die Ferne, andererseits aber auch durch die Physiognomie des Gesichtes mit tief liegenden Augen, leicht nach oben gezogenen Augenbrauen und geschlossenem Mund unterstrichen wird, wodurch seine Konzentration beim Nachdenken über das geschriebene Wort umso deutlicher hervorgehoben wird. Er ist mit Hemd und Talar bekleidet, dessen Rock tiefe Vertikalfalten und dessen lange Ärmelsäume tiefe gebrochene Schüsselfalten bilden. Die hohe Platzierung der Figur, die Strenge in ihrer Gestik und Mimik sowie die stark gefurchte Faltenbildung der Gewandung entrücken die Figur dem Betrachter, der sie aufgrund dieser Gestaltungsmerkmale vornehmlich als Darstellung eines strengen Gelehrten wahrnimmt. 

3.2: Kanzeln

Zu dieser Darstellung passen auch die figürlichen Reliefs der Kanzel, die Albert Bäckle 1898-1900 für die Lutherkirche in Bad Cannstatt schuf.(63) Der fünfseitige Kanzelkorb ist mit den Büsten von Paulus, Johannes und Petrus verziert, die ihrerseits jeweils von einer Rahmenarchitektur aus Kleeblattbögen auf Rundsäulen umgeben sind. Auch diese Figuren zeichnen sich durch eine strenge Lineatur in der Gestaltung der Physiognomie und der Faltengebung der Gewandungen aus und auch hier wird die Gestik der einzelnen Figuren insofern betont, als Petrus seinen Schlüssel mit seiner geballten linken Hand fest umschließt und seine Rechte auf seine Brust gelegt hat, während er seinen Kopf zu seiner rechten Seite wendet und in die Ferne blickt und Paulus ebenfalls den Griff seines Schwertes fest mit geballter Hand umgreift, während er die Linke geöffnet hat, so als nutze er sie zur Erklärung seines gesprochenen Wortes, das aus seinem geöffneten Mund zu kommen scheint.


Waiblingen, Korber Höhe. Kanzel

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 47127.1.005-00

Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts werden die Kompositionen der Kanzeln schlichter und nüchterner, wie anhand der Kanzel in der Johanneskirche in der Korber Höhe, ein Stadtteil von Waiblingen, deutlich aufgezeigt werden kann.(64) Die 1987/1988 von Rotraud Hofmann geschaffene Kanzel besteht aus zwei schalenförmigen Teilen aus Marmor, die ineinandergreifen, sich aber nicht überschneiden oder kreuzen, sondern sich lediglich einander anschmiegen. Zur Gemeinde hin ist die Form konvex gewölbt und damit geschlossen, zum Altarraum hin ist sie konkav geschwungen und damit geöffnet. 

3.3: Kruzifixe, Tisch- und Altarkreuze

Die stets wachsende Individualität in der künstlerischen Gestalt lässt sich sehr gut an der Darstellung der Kruzifixe ablesen, in denen der Leib Christi durch Abstraktion mehr und mehr in seiner seelischen Verfassung personifiziert bzw. gar nicht mehr zur Darstellung gelangt.

So zeigt beispielsweise das silberne, von Ernst Yelin 1958 entworfene und von Helmut Schauler ausgeführte Altarkreuz der Stiftskirche in Tübingen(65) am Schnittpunkt zwischen Stamm und Querbalken das einem Kreis einbeschriebene Agnus Dei mit Siegesfahne als Symbol für Christus und seine Auferstehung, die in der Reliefdarstellung zudem dadurch hervorgehoben wird, dass sich das Lamm mit seinem Kopf nach hinten zum Banner wendet. An den äußeren Abschlüssen von Stamm und Balken befinden sich, nun ohne rahmenden Kreis, die vier Evangelistensymbole, der Engel als Symbol für Matthäus oben, links der Stier für Lukas, rechts der Löwe für Markus und unten der Adler für Johannes. Insofern der auferstandene Christus in Gestalt des Lammes mit der Siegesfahne zusammen mit den Evangelistensymbolen erscheint, zeigt die Darstellung motivische Anklänge zur Maiestas Domini (die Herrlichkeit des Herrn), die im Allgemeinen so dargestellt wird, dass der auferstandene Christus, in der himmlischen Sphäre, umgeben von einer Mandorla und den Evangelistensymbolen, thronend sitzt und dabei mit erhobenen Händen seine Wundmale zeigt. Durch diesen motivischen Zusammenhang wird also inhaltlich die Auferstehung Christi mit der Herrlichkeit des Herrn in Verbindung gebracht und auf diese Weise die Auferstehung Christi in eine höhere Dimension gerückt.(66)


Fellbach, Lutherkirche. Tischkreuz

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 47331.1.003-00

Anstelle des Agnus Dei am Schnittpunkt zwischen Kreuzstamm und Querbalken tritt im Tischkreuz von Ingrid Seddig in der Fellbacher Lutherkirche von 1971 das Alpha und Omega als Symbol für Christi im Sinne von „der Erste und der Letzte“.(67) Die beiden Buchstaben sind einem Quadrat einbeschrieben, um welches sich vier Rechtecke mit den Evangelistensymbolen gruppieren. Die Rahmen sind durch Überschneidungen miteinander verkettet und in der Senkrechten hochrechteckig, in der Waagrechten hingegen querrechteckig geformt. Die Anordnung der Evangelistensymbole gleicht derjenigen im Werk Yelins, gänzlich verschieden ist indes die künstlerische Gestalt insofern, als nun das flache Relief durchbrochen ist, so dass man zwischen der jeweiligen Rahmenform und zwischen den die Evangelistensymbole umgebenden Formen hindurchblicken kann. Zudem sind nun hier alle Binnenformen vergoldet, wodurch die einzelnen Symbole gegenüber der jeweiligen Rahmenform noch umso deutlicher hervorgehoben werden.


Tübingen, Stiftskirche. Tischkreuz

Verein für christliche Kunst / Verein für Kirche und Kunst

Das 1964 von Ulrich Henn für die Stiftskirche St. Georg in Tübingen geschaffene Altarkreuz aus Bronze zeigt in 11 Einzelbildern die Stationen vom Leben Jesu Christi nach dem 2. Artikel des Glaubensbekenntnisses.(68) Alle Einzeldarstellungen sind von Ästen gerahmt, die sich wellenförmig in zwei Ranken um die Bilder schließen und diese kreisrund einrahmen. Eine Ausnahme bildet lediglich die Darstellung von Jesus Christus als Weltenrichter im Schnittpunkt zwischen Kreuzstamm und Querbalken, wo sich die Ranken zu einer den thronenden Christus umschließenden Mandorla formen. Hier erscheint Christus erheblich größer als in allen anderen Szenen, wodurch er zusätzlich der sich unterscheidenden Rahmenform an Bedeutung gewinnt. Unter dieser Darstellung befindet sich die Geburt Christi, links die Kreuzigung, rechts die Grablegung und darüber Christus im Himmel. An den Enden des Kreuzes sind unten der Engel mit Maria und Martha, links die Geißelung Christi und rechts die Auferstehung zu sehen. Alle diese Figuren sind sehr klein, schmal und dementsprechend äußerst filigran gearbeitet. Während die einzelnen Mimen der Figuren kaum auszumachen sind, spielen die Gesten und Gebärden der einzelnen Figuren eine umso wichtigere Rolle und lassen die jeweilige Bedeutung der einzelnen Szenerie sehr deutlich vor Augen treten.


Heilbronn, Auferstehungskirche. Kreuzigungsgruppe

Archiv des Vereins für christliche Kunst / Verein für Kirche und Kunst

Auch die von Karl Hemmeter Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts geschaffene Kreuzigungsgruppe für die Auferstehungskirche in Heilbronn(69) nimmt weniger den Tod als vielmehr das Leben Jesu Christi in den Blick. Obschon der Gekreuzigte sehr schmal ist und mit langen Armen und Beinen, einem langen Oberkörper und einem langgezogenen ovalen Kopf dargestellt ist, so als sei er leicht überstreckt ans Kreuz genagelt, befindet sich der Kopf von Christus nicht unterhalb des Schnittpunktes von Stamm und Querbalken, sondern darüber, so dass die Arme nicht nach unten, sondern nach oben durchgestreckt sind. Christus blickt auf die links unter ihm befindliche Maria herab und da er sich mit dem Kopf leicht nach vorne beugt, erzeugt diese Gebärde den Eindruck, als löse er sich schon leicht vom Kreuz, wodurch die Auferstehung schon im Tod mit eingeschlossen ist. Hinzu tritt, dass die Physiognomie des Gekreuzigten im Gegensatz zum Körper deutlich artikuliert ist, denn die Augenbrauen sind stark hochgezogen, die lange Nase steht im Kontrast zur vorgeschobenen und vorgewölbten Unterlippe, die deutlich erkennen lässt, dass er nun über das überwundene Leid erleichtert ist und hingebungsvoll zu seiner Mutter blickt. 


Tuttlingen, Auferstehungskirche. Kruzifix

Verein für christliche Kunst / Verein für Kirche und Kunst

Die Abstrahierung der Körperlichkeit, die in dem Werk von Karl Hemmeter auffällt, zeigt sich auch in dem 1966 von Roland Martin geschaffenen Bronzekruzifix in der Tuttlinger Auferstehungskirche.(70) Das lateinische, filigrane Kreuz zeichnet sich durch einen extrem breiten Querbalken aus, dessen Breite der Länge des Stammes entspricht. Der Gekreuzigte ist kaum breiter als der Stamm und damit außerordentlich dünn und die einzelnen Körperteile sind so lang durchgestreckt, dass sie als geradezu überstreckt erscheinen. Deshalb sind auch die Beine nicht über dem Knie, sondern über den Unterschenkeln gekreuzt. Der Körper besteht nur noch aus Haut und Knochen, so dass sich die Knochen des Brustkorbs deutlich unter der Haut hervorprägen, wodurch sich zwischen den Knochen tiefe Furchen bilden. Der ausgemergelte Körper ist auch daran erkennbar, dass die schon an sich sehr schmale Taille gegenüber dem Ober- und Unterkörper stark eingezogen ist. und allein der ein paar Schüsselfalten angedeutete Lendenschurz zeigt an, dass sich darunter Leiste, Genitalien und Gesäß befinden. Das gesenkte Haupt des Gekreuzigten verdeutlicht noch einmal mehr, dass es sich um einen Menschen handelt, der nach äußerst schwerem Leiden ans Kreuz genagelt und der durch das Strecken des Körpers am Kreuz noch in den letzten Zügen seines Lebens schwer gequält und misshandelt wurde und nach völliger Erschöpfung durch das erlebte Leid starb. Die der Körpergestalt innewohnende Expressivität in der Artikulation der Körperlichkeit und der Gebärde spricht für sich und es bedarf daher nicht mehr der künstlerischen Ausformung des Gesichts, auf die hier ganz bewusst verzichtet wurde.


Strümpfelbach, St. Judokus. Tischkreuz

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 470230.1.003-00

Auch das von Karl Ulrich Nuss 1972 für die Pfarrkirche St. Jodokus in Strümpfelbach geschaffene Tischkreuz zeichnet sich durch die Fragilität des Gekreuzigten aus.(71) Dieser ist einem breiten lateinischen Kreuz einbeschrieben und zwar insofern, als im Schnittpunkt zwischen Kreuzstamm und Querbalken ein Kreis ausgeschnitten ist, in den die Figur des Gekreuzigten eingepasst ist. Der äußerst schmale, grazil wirkende Christus ist nimbiert und überschneidet mit seinen ausgestreckten Armen und Beinen die Tangente des Kreises, während der Kopf die Tangente des Kreises berührt. Durch die Gestrecktheit des Körpers wird er selbst zum Kreuz und ersetzt dieses, das in der Tat schon fortgelassen ist. Trotz der Grazilität der Figur sind die einzelnen Knochen des Körpers und die Falten des Lendenschurzes deutlich artikuliert. Durch den Gegensatz zwischen schmal und breit sowie zwischen eckig und rund wird die Skulptur zu einem besonderen Erlebnis für den Betrachter, der zudem das Symbol des Kreuzes nicht nur in der Gestalt des Kreuzes per se, sondern auch in der Figur des Gekreuzigten und in seinem Nimbus wahrnimmt. Das Symbol des Kreuzes ist also in dreierlei Gestalt wiedergegeben, ein Gestaltungsprinzip, das den Gedanken an die Dreifaltigkeit mit in sich einschließt.


Winnenden, Schlosskirche. Tischkreuz

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 472241.1.005-02

Zehn Jahre später arbeitet auch Hans Gottfried von Stockhausen mit der ausgesparten Form. Sein Tischkreuz in der Schlosskirche St. Jakobus in Winnenden in Gestalt eines griechischen Kreuzes ist in den Binnenflächen mit Laubwerk gefüllt.(72) Im Schnittpunkt zwischen Stamm und Querbalken, im Zentrum des Kreuzes, ist eine Mandorla als ausgesparte Form ausgeschnitten, in die ein rundes Medaillon eingepasst ist. Dieses ist mit einem vorder- und einem rückseitigen Relief verziert, das auf der Vorderseite die Auferstehung und auf der Rückseite die Kreuzigung zeigt. Unter der Mandorla öffnet sich Wurzelwerk zu zwei Ästen, die ihrerseits ein Bergkristall als Symbol für das Gleichnis vom Senfkorn umschließen. Kreuzigung, Auferstehung und Senfkorn vermitteln die Heilsbotschaft von Jesus Christus, der durch den Tod zu neuem Leben gelangte und immer wieder neu Leben schenkt. 


Bernhausen, Johanneskirche. Altarkreuz

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 53001.2.008-00

Figurenlos indes bleibt das von Wolf-Dieter Kohler und Gottfried Wendschuh 1965 geschaffene Altarkreuz in der Johanneskirche zu Bernhausen.(73) Das Kreuz besteht aus Eisen und hat die Form eines griechischen Kreuzes. Stamm und Querbalken bestehen aus einer Eisenplatte, auf die in der Senkrechten sechs und in der Waagrechten fünf Metallleisten mit dazwischenliegenden tiefen Kerben aufgelegt sind. Im Kreuzungspunkt zwischen Stamm und Querbalken sind nur zwei der horizontalen Leisten über die senkrechten gelegt, bei den übrigen laufen die vertikalen Leisten durch und die horizontalen brechen ab. Allein durch die rückwärtige Wandbemalung wird das Kreuz belebt, in der Menschen dargestellt sind, die entweder paar- oder gruppenweise mit erstaunten Blicken und Gebärden auf das Kreuz blicken. 

3.4: Taufsteine und Taufbecken

Fellbach, Pauluskirche. Taufstein

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 47333.1.006-00

Dies zeigt sich an der Gestaltung der Taufsteine und Taufbecken, die in ihrem Formenreichtum zunehmend reduziert werden. So zeigt beispielsweise der von Wilhelm Jost 1926/1927 für die Fellbacher Pauluskirche entworfene, der Gesamtkonzeption des Innenraumes in den Formen des Jugendstils entsprechende Taufstein noch ein kompliziertes Gebilde, bestehend aus einer sechsseitigen Sockelplatte, dem Korpus, der Deckplatte und einem halbkugelförmigem Deckel.(74) Die Sockelplatte hat im Prinzip die Form eines Dreiecks mit abgeschnittenen Ecken, der Korpus strahlt von der Mitte der Sockelplatte ausgehend sechsförmig aus und öffnet sich nach oben hin zu einem regelmäßigen Sechseck, auf dem eine sechseckige Deckplatte aufliegt. Den schmalen Seiten der Sockelplatte sind ebenso wie beim Altar drei kniende betende Engel aus Terrakotta mit gesenkten Häuptern vorgelagert, die gleichsam als Stütze des Korpus fungieren. Die Deckplatte ist zweifach gestuft. In der Mitte befindet sich eine kreisförmige Einwölbung zum Einstellen einer Schale, die äußere Abstufung ist ebenfalls kreisförmig, jedoch flach gehalten und dient dem Aufsetzen des gewölbten Kupferdeckels. Dessen Oberseite ist vergoldet und durch sechs Bänder in sechs offene dreieckförmige Felder eingeteilt, die mit den christlichen Symbolen Adler, Christusmonogramm, Agnus Dei, Rebe mit Weinlaub, zwei Fischen und Kreuz gefüllt sind. Alle Symbole sind jeweils einem rahmendem Kreis einbeschrieben. Die oberen Zwickel bieten Raum für paarweise einander zugeordneten Öffnungen, die den Blick zum Scheitel des Halbkreisbogens führen, der von einem lateinischen Kreuz bekrönt wird. 


Fellbach, Melanchthonkirche. Taufstein

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation. Inv.-Nr. 47333.1.006-00

Demgegenüber zeigt der Taufstein der Fellbacher Melanchthonkirche von 1962/1964 eine gänzlich schlichte, wiederum der Gestalt des Innenraumes entsprechend nüchterne Form, allein bestehend aus einem sehr hohen zylinderförmigen Sockel aus Sichtbeton, der mit einer umlaufenden Kerbe schließt.(75) Darüber erhebt sich der Korpus aus schwarzem Marmor, der nur ein Drittel der Höhe des Sockels, aber denselben Radius wie der Sockel aufweist. Die Oberseite des Korpus ist zum Einstellen einer Taufschale eingetieft. Diese besteht aus Kupfer und ist rund und ohne jegliche Zierformen gearbeitet. Allein der trichterförmig nach oben zugespitzte Deckel wird von einem Fisch aus Bronze als Symbol für Christus bekrönt. Wenn man die Schale mit Deckel in die Vertiefung des Taufsteins stellt, ist lediglich der Deckel zu erkennen, der quasi als Bekrönung des Taufsteins fungiert, so dass der Betrachter, der den Taufstein in Augenschein nimmt, zunächst den Fisch wahrnimmt.

So fällt ebenso wie anhand der Betrachtung der Kruzifixe und Tischkreuze auch an den Taufsteinen auf, dass die Tendenz zur Reduktion im Verlauf des 21. Jahrhunderts zugunsten einer gesteigerten Ausdruckskraft immer mehr zunimmt.

3.5: Portale

Bad Cannstatt, Stadtkirche. Westportal

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Invenstarisation, Inv.-Nr. 12101.1.041-02

Ferner sei auch ein Blick auf die Verzierung der Portale geworfen, die im 19. Jahrhundert noch sehr traditionell als Rundbogen- oder Spitzbogenportale ausgeführt wurden, dann eine Rahmenform in Gestalt von Säulen mit bekrönendem Tympanon erhielten, das dann meist mit einem Relief ausgeschmückt wurde. Erst im Verlauf des 20. Jahrhundert ändert sich die Gestalt der Portale, die Rahmenform ist oft fortgelassen, dafür ist aber die Portalfläche selbst figürlich gestaltet. Dies wird zunehmend auch auf Portale von mittelalterlichen Kirchen übertragen, wie man beispielsweise anhand des Westportals der Stadtkirche in Bad Cannstatt, das 1962 von Gottfried Henn mit einem Bronzeguss verziert wurde, deutlich sehen kann.(76) Das zweiflügelige hochrechteckige Westportal zeigt das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, das in Matth. 20, Vers 1-16 berichtet wird. In diesem Gleichnis wird das Reich Gottes mit einem Hausherrn verglichen, der Tag für Tag zur Versorgung seines Weinbergs Arbeiter für einen Lohn eines Denars einstellt. Der Weinbergbesitzer geht alle drei Stunden auf den Marktplatz, um neue Arbeiter anzuwerben, die am Ende des Tages alle, egal, wie lange sie gearbeitet haben, einen Denar als Lohn bekommen. Die Arbeiter empfinden das als ungerecht und beschweren sich, doch der Weinbergbesitzer lässt sich nicht beirren, denn er vertritt die Ansicht, dass sie doch für die Arbeit zu einem Denar zugestimmt hätten.

Die zweiflügelige Bronzetür besteht aus insgesamt fünf Bronzeplatten, wobei die linke Türhälfte drei und die rechte zwei übereinander angeordnete Bronzeplatten zählt. Die Illustration des Gleichnisses verteilt sich auf drei Bronzeplatten mit jeweils einer Figurengruppe, nämlich links zwei und rechts oben eine. Alle Figuren sind im Hochrelief ausgeführt. Während die Figurengruppe links unten die Arbeiter im Weinberg zeigt, geht es in der darüber liegenden Darstellung schon um das Werben von Arbeitern für den Aufstand gegen den Herrn, denn links oben steht eine Figur, die seine Linke erhoben hat und mit seiner Rechten auf das unter ihm stehende Figurenpaar weist, das seinerseits bereits die Fäuste geballt hat und entschlossen zu seinem Anführer aufschaut. Ein weiterer Mann, der noch die Hacke in seinen Händen hält, blickt zu ihm auf, während ein anderer sich zunächst noch unentschlossen von ihm abwendet. Rechts oben sieht man nun die vor dem Weinbergbesitzer versammelten Arbeiter, die zusammengekommen sind, um dem Herrn seine Ungerechtigkeit vorzuwerfen, ihm zu spotten und für ihre Gerechtigkeit zu kämpfen, dargestellt durch die wütenden Gebärden, Gesten und Minen der Figuren, die ihre Hände zu Fäusten geballt haben oder auf ihn zeigen, ihre Arme ausstrecken oder ihm ihre Fäuste entgegenstrecken und ihn mit weit aufgerissenen Mündern anschreien. Der Besitzer hingegen, der im Gegensatz zu den unbekleideten Arbeitern mit Mantel und Hut auf einem Podest steht, hat seine Hände über Kreuz gelegt und blickt mit leicht gesenktem Haupt ruhig und etwas mitleidig auf die aufgebrachte Menge herab. Die Darstellung, in der die einzelnen Figuren rein linear aufgefasst und auf die wesentlichen Merkmale reduziert sind, lebt allein durch die Gebärden und Gesten, unterstützt durch wenige Gesichtszüge, die in flüchtigen Ritzungen angedeutet sind. Es kommt also weniger auf eine realistische Darstellung als vielmehr auf die den Szenerien innewohnende Dramatik und Expressivität an, um den Betrachter in die Darstellung einzubeziehen, ihn für das Empfinden der einzelnen Figuren einzunehmen und auf diese Weise die Darstellung lebendig werden zu lassen. Die Stärke des künstlerischen Schaffens liegt also in der Reduktion der Form und in der Steigerung der Ausdruckskraft in den Gebärden und Gesten. 

4: Malerei

In der Malerei sind im 19. und 20. Jahrhundert vornehmlich die Ausschmückungen der Kirchenneubauten von Bedeutung. Sowohl Christian Friedrich von Leins als auch Heinrich Dolmetsch lieferten für die von ihnen entworfenen Kirchen auch die Entwürfe für die Ausmalung von Wänden, Decken, Fenstergewänden, Emporenbrüstungen oder Fußböden, um den Bauten einen möglichst einheitlichen Charakter zu geben, obschon sie dann verschiedene Künstler zur Ausführung der Pläne engagierten. Mit Entstehung der sog. Gemeindekirchen im Verlauf des 20. Jahrhunderts und der zunehmenden Reduktion des kirchlichen Schmucks gewann dann zunehmend die Glasmalerei an Bedeutung, die bisweilen zum einzigen Farbelement im Kirchenraum wird.

4.1: Decken- und Wandmalerei

Chorgewölbe der Bonifatius-Kirche in Oberrot

Mit freundlicher Genehmigung der Kirchengemeinde Oberrot

Die Deckenbemalungen nach den Entwürfen von Heinrich Dolmetsch weisen eine Vielzahl an Ornamenten und Motiven mit Lilien, Blüten oder Rosetten, Teppichmustern und Quadern, allegorischen Motiven, Bibelversen und Psalmen, wie beispielsweise in der evang. Kirche in Beuren, wo Dolmetsch 1904 an den senkrechten Bereichen der gesprengten Decke auf der Nord- und Südseite Inschriften anbringen ließ.(77) Die verschiedenen Ornamente wurden meist in Friesbändern, und zwar in der Technik der Schablonenmalerei aufgetragen, um der Gleichförmigkeit der Ornamente Rechnung tragen zu können. Die friesartige vegetabile Ornamentmalerei zeigt sich neben Beuren und Uhlbach auch beispielsweise in der evang. Kirche in Bad Herrenalb, wo die Decke des Kirchenschiffs nicht spitz, sondern kleeblattförmig gesprengt ist und sich hier ein mittleres Fries durch das gesamte Kirchenschiff zieht.(78) Figürliche Elemente wie in der Andreaskirche in Uhlbach kommen auch in der evang. Kirche in Oberrot vor, für die Heinrich Dolmetsch 1887/1888 auch die Malerei für das Tonnengewölbe im Turmchor entwarf.(79) Das Figurenprogramm nimmt in Gleichnissen Bezug auf das Jüngste Gericht und zeigt auf der Nordseite von Osten nach Westen einen Schnitter, Christus als Weingärtner und den Sämann. Auf der gegenüberliegenden Seite sind Schafböcke unter einer Palme, die Scheidung der Böcke von den Schafen und der Widder unter dem Paradiesbaum zu sehen.(80)

Auch die Wände, und hier vornehmlich die Gewände der Fenster sowie der Arkaden- und Chorbögen, wurden mit ornamentalen und vegetabilen Friesen in der Technik der Schablonenmalerei versehen, während man die Wände über den Chorbögen mit ikonographischen Darstellungen wie beispielsweise des thronenden, von vier Engeln umgebenen Christus in der Mandorla in der evang. Kirche in Bad Urach, ausschmückte.(81)  

4.2: Glasmalerei

Bei den Neu- und Umbauten des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde die künstlerische Gestaltung der Fenster in Bezug zur Umgebung des Innenraumes gesetzt, wobei figürliche Darstellungen meist nur für den Chor geschaffen wurden, um erstens den Chor gegenüber dem Langschiff zu betonen, zweitens dem bereits vorhandenen figürlichen Schmuck im Langhaus nicht die Wirkung zu nehmen und drittens zu gewährleisten, dass genügend Licht durch die Seitenschifffenster in das Kirchenschiff dringen kann.(82) So entwarf beispielsweise Gustav van Treeck 1897/1898 für die von Heinrich Dolmetsch in diesen Jahren erweiterte evang. Kirche in Schramberg das Ostfenster im Chor, ein fünfteiliges, spitzbogig schließendes Maßwerkfenster, wobei jeweils zwei Lanzetten von einem Okulus überfangen werden, die ihrerseits von dem äußeren Spitzbogen umfasst werden.(83) Im Couronnement befindet sich über dem Mittelfenster ein stehender Vierpass, während über den jeweils zwei seitlich begleitenden Lanzetten ein Okulus liegt. Die Darstellung der Bergpredigt, für die man sich als Thema für das Ostfenster entschied, erstreckt sich über die gesamte Breite der fünf Fensterbahnen, sich erhebend über einen biblischen Spruch und bekrönt von Stadttoren, die möglicherweise das himmlische Jerusalem symbolisieren.(84) Christus ist predigend mit ausgebreiteten Armen dargestellt, umringt von einer Menschenmenge, die teils in antikisierenden Gewändern und teils in zeitgenössischer Tracht gezeigt wird. Die Frauen und Mädchen im Vordergrund tragen bäuerliche Kleidung mit langen Röcken und Schürzen, ein Mädchen am rechten Bildrand trägt den aus dem Schwarzwald bekannten „Bollenhut“. Der stehende Vierpass zeigt das Alpha und Omega als Symbol für Christus. So wird Christus auf verschiedenen Ebenen gezeigt und in jeder Ebene erhöht. Die Fenster der Seitenschiffe wurden oftmals ornamental und floral, und zwar in Gestalt von lichtdurchlässigen Grisailmustern verziert, so beispielsweise in der Reutlinger Marienkirche oder in der evang. Kirche in Hohenmemmingen, die ebenfalls beide Ende des 19. Jahrhunderts von Heinrich Dolmetsch restauriert wurden.(85)


Gutenberg, Nikolauskirche. Chorfenster

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 25012.1.006-00

Die Darstellung des Predigens durch die ausgebreiteten Hände ist in diesem Glasfenster dominierend. Es kommt also auf die Wirkung der Geste an und genau dieses Gestaltungselement sollte im 20. Jahrhundert wesentlich werden, denn nun wurden die Figuren zur Betonung einer bestimmten Szene innewohnenden Dramatik zunehmend abstrahiert und auf die wesentlichen Gebärden und Gesten reduziert. Zudem zeigt sich die Tendenz, nicht mehr das gesamte Fenster mit figürlicher Glasmalerei auszustatten, sondern nur in Teilen. So zeigt beispielsweise das Chorfenster der Nikolauskirche in Gutenberg, ein dreiteiliges Maßwerkfenster mit zwei Dreipässen und einem liegenden Fünfpass im Couronnement, für das 1934 Walter Kohler, Jahn und Gaisser den Entwurf für die Verglasung lieferten, in welchem in lediglich sechs der insgesamt 15 Felder die Geburt Jesu, die Taufe Jesu, Jesus und die Samariterin, die Heilige Familie an der Krippe, Christus als Weltenrichter und ein Engel dargestellt sind, während die übrigen Felder mit kleinen farbigen Quadraten gefüllt sind.(86)


Bernhausen, Johanneskirche. Fenster der Westwand. Kain schlägt Abel tot

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Inventarisation, Inv.-Nr. 53001.2.004-01 - 53001.2.004-7

Ferner zeigt die Westwand der Johanneskirche in Bernhausen einen von Walter Kohler 1955 gestalteten Fensterbildzyklus, der in acht verschiedenen Darstellungen die Unheilsgeschichte der Menschheit und die Heilsgeschichte Jesu Christi zum Thema hat.(87) Jedes hochrechteckige Fenster ist dabei in 25 hochrechteckige Felder mit Bleiverglasung unterteilt. Die figürliche Darstellung bezieht sich im Wesentlichen nur auf bestimmte Felder des jeweiligen Glasfensters, keinesfalls jedoch auf alle. Bei der ersten Illustration des Zyklus mit Darstellung vom Brudermord Kains liegt Abel leblos auf dem Boden, während Kain mit der Axt in der Hand vor ihm wegläuft, sich aber noch erschrocken nach ihm umsieht. Die Szene ist gänzlich auf die Gebärden und Gesten der beiden Figuren reduziert, denn ein Hintergrund ist lediglich hinter Abel in Gestalt eines braunen Fußbodens angedeutet, ansonsten wird auf die Ausgestaltung des Bildvorder- und -hintergrundes vollkommen verzichtet.


Erkenbrechtsweiler, evang. Pfarrkirche. Chorfenster

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 25011.1.004-00 - 25001.1.004-02

Die Dramaturgie der Gebärden und Gesten zeigt sich auch in den von Valentin Saile 1954 gestalteten Chorfenstern der Pfarrkirche in Erkenbrechtsweiler, die segmentbogenförmig schließen und in sechs bzw. acht, jeweils paarweise angeordneten Feldern aus farbigem Glas Darstellungen mit biblischen Geschichten und Szenen aus dem Leben Jesu zeigen.(88) Die Szenen spielen sich alle vor blauem Hintergrund ab, wodurch die Figuren mit roten, grünen oder ockerfarbenen Gewändern, die meist in Gruppen angeordnet sind und sich mal die Hände reichen, sich mal nach vorn oder nach hinten beugen, deutlich hervortreten.


Fellbach, Melanchthonkirche. Lichtstreifen im Innenraum

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 47332.1.011-00

Eine gänzlich davon differierende Auffassung von Glasmalerei bzw. Kunstverglasung zeigen die nach dem zweiten Weltkrieg errichteten Kirchen, die nun nicht mehr notwendigerweise durch herkömmliche Fenster, sondern durch Lichtstreifen beleuchtet werden, wie es beispielsweise die Melanchthonkirche in Fellbach zeigt, die 1962/1964 nach den Entwürfen von Anneliese Paulus mit farbigen Lichtstreifen ausgestattet wurde.(89) Die farbigen Lichtstreifen des Kircheninneren verlaufen auf der Nord- und Südseite entsprechend des Giebels dreieckförmig, auf den Langseiten horizontal. Sie sind in ihrer Farbgebung auf den Altar hin ausgerichtet und weisen somit dort die hellsten Farben auf. Während das Lichtband der Nordseite in Grauweiß gehalten ist, dominiert in den horizontalen Lichtstreifen die Farbe Blau in verschiedenen Schattierungen, unterbrochen von Rot, Gelb und Weiß. Die Südseite, also die Altarseite, zeigt von unten nach oben ansteigend die Farben Blau, Rot und Gelb in wiederum verschiedenen Farbnuancen. Die oberste Spitze erstrahlt in hellem Gelb und suggeriert dadurch die Vorstellung, als erschiene der Heilige Geist über dem Altar und somit über allen, die dem Gottesdienst beiwohnen.


Bietigheim, Pauluskirche. Lichtstreifen im Innenraum

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation, Inv.-Nr. 05205.1.0175-00 u. 05205.1.0183-00

Ein solcher Lichtstreifen zeigt beispielsweise auch die von Walter Ruff 1966/1968 errichtete Pauluskirche in Bietigheim, die zudem noch mit gelben Lichtstreifen an den Kirchenwänden ausgestattet ist, um auf diese Weise im Innenraum bestimmte Lichtakzente zu setzen und diesen auf diese Weise optisch zu beleben.(90) 

5: ZUSAMMENFASSUNG

Das Frühe Christentum, das Mittelalter, die Frühe Neuzeit und die Moderne stehen insofern in enger Verbindung miteinander, als in jeder Epoche die Homogenität von Architektur und bildender Kunst von zentraler Bedeutung war. Erst mit Beginn der Frühen Neuzeit trennte sich allmählich der Architekt vom Baumeister, der Baumeister vom Künstler, der Bildhauer vom Maler oder der Drucker vom Formschneider, und trotz dieser zunehmenden Individualisierung findet man in jeder Epoche Architekten, die nicht allein das Kirchengebäude geplant haben, sondern zudem auch die einzelnen Ausstattungsstücke, und zwar nicht allein bezogen auf deren jeweiligen Standort, sondern auch auf deren jeweilige Form.(91) Der stilistische Bezug zwischen architektonischer Gestalt eines Kirchenbaues und seiner Ausstattung diente und dient vornehmlich dazu, dem Kirchenbau eine klare und einheitliche Formensprache zu geben, und zwar mit dem Ziel, die Menschen durch die Klarheit der Form zur Ruhe kommen, sie in Kontakt zu Gott treten und sie in Beziehung zu ihm treten zu lassen. Selbst bei der Erneuerung von Ausstattungsstücken in historischen Kirchenräumen wurde und wird, wenn man auf die historische Bausubstanz und die vorhandene historische Ausstattung Wert legt, darauf geachtet, dass die neuen Ausstattungsstücke in Beziehung zu den alten stehen und diese in ihrer Wirkung nicht schmälern.

 

Aktualisiert am: 26.01.2015