Johannes Brenz und die Reformation in Schwäbisch Hall

Von: Weismann, Christoph

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Die Begegnung mit Luther
  2. 2: Jugend und Studium
  3. 3: Prediger und Reformator in Hall
  4. 4: Die Ordnung des Kirchen- und Schulwesens
  5. Politik und Kirchenpolitik vom Bauernkrieg bis zum Augsburger Reichstag
  6. 5: Die Familie
  7. 6: Reformation in Württemberg
  8. Die Jahre bis zum Interim
  9. Die Flucht nach Württemberg
  10. Anhang

1: Die Begegnung mit Luther

Martin Luther (1483-1546)

Gemeinfrei

Am Montag nach Jubilate, 26. April 1518, fand an der Universität Heidelberg im Hörsaal der Artistenfakultät eine theologische Disputation statt.(1) Das Generalkapitel des deutschen Augustinereremitenordens hatte am Vortag in der kurpfälzischen Residenzstadt getagt. Der Wittenberger Ordensbruder und Theologieprofessor Martin Luther 1483-1546 seit einem halben Jahr aufgrund seiner Ablassthesen in aller Munde, hatte sich erboten, erstmalig außerhalb seiner Heimatuniversität seine neuen Erkenntnisse zur Diskussion zu stellen. Er hatte für Heidelberg Grundthesen über seine umstrittene Theologie erstellt und leitete das Gespräch. Die mehrheitlich schon betagten Professoren beteiligten sich höflich, aber doch eher zurückhaltend an der Disputation, während die Herzen der meisten Studenten und jungen Magister dem eindrucksvollen hageren Mönch aus Sachsen unvoreingenommen zuflogen. Unter diesen Studenten saß auch Johannes Brenz 1499-1570 aus Weil der Stadt. Für ihn und seine Kommilitonen, von denen viele später an führenden Stellen die Lehren Luthers vertreten sollten, wurde der Tag mit Luther zu einem Höhe- und Wendepunkt in ihrem Leben.

Einer der Teilnehmer erinnert sich später, dass Luther "seine ganze Theologie" in den insgesamt 40 Thesen zur Diskussion gestellt habe. Er sprach von der Untauglichkeit des Gesetzes und der menschlichen Werke zur Gerechtigkeit vor Gott, wie überhaupt der Mensch unfähig sei zum Guten, es sei denn Gottes Vergebung und Gnade werde demütig angenommen. Der freie Wille des Menschen ist nach Luther – im krassen Gegensatz zur Lehre der mittelalterlichen Scholastik – eine Fiktion, die nur zur Todsünde führt. Der Theologie der Herrlichkeit stellt Luther seine Kreuzestheologie entgegen: Allein der Glaube an das Werk Christi, allein die Liebe machen den Menschen vor Gott gerecht und lassen ihn teilhaben am Licht der Erlösung, am Heil und Leben. In weiteren Thesen brachte Luther seinen Gegensatz zur Aristotelischen Philosophie und seine Abhängigkeit von Paulus und Augustin zum Ausdruck, doch scheint dieses Thema nicht mehr diskutiert worden zu sein.

Zusammen mit Martin Bucer 1491-1551 dem späteren Straßburger Reformator, und mit Martin Frecht 1494-1556 der dann in Ulm predigte und in Tübingen lehrte, hat Brenz Luthers Disputation mitprotokolliert Und nach der öffentlichen Veranstaltung sollen er und Bucer in Luthers Herberge noch das Gespräch mit ihm fortgesetzt haben.(2) Einige Tage später äußerte Luther in einem Brief die "unbeschreiblich schöne Hoffnung", dass sich die wahre Theologie Christi, von den uneinsichtigen Alten verstoßen, nunmehr der Jugend zuwende.(3)

Für Brenz waren und blieben seit jenen denkwürdigen Heidelberger Tagen Luthers Theologie und seine reformatorische Neuordnung aller Lebensgebiete Vorbild und Maßstab für seine eigene Existenz. Diese Grundlagen bestimmten ihn als Prediger und Reformator der Reichsstadt Schwäbisch Hall, als Leiter der Kirche des Herzogtums Württemberg und als der führende lutherische Theologe im süddeutschen Raum.

2: Jugend und Studium

Über die Jugendjahre von Brenz sind wir nur relativ spärlich unterrichtet. Der am Johannistag, 24. Juni 1499, in der schwäbischen Reichsstadt Weil Geborene entstammte einer angesehenen Familie der Stadt.(4) Der Vater Martin Heß, genannt Brenz, war von 1511-1531 Schultheiß und Richter und starb 1537 als evangelischer Bürger in der katholisch gebliebenen Stadt. Die Mutter Katharina, eine geborene Henig, stammte wohl aus Enzweihingen, wo sie zur Zeit des Interims noch lebte. Johannes, der noch drei jüngere Brüder und mindestens eine Schwester hatte, besuchte die Schule seiner Vaterstadt, dann die Trivialschule in Heidelberg und erhielt seit 1511 seine weitere humanistische Grundausbildung auf der Lateinschule in Vaihingen/Enz. Jakob Heerbrand 1521-1600 erzählt später in seiner Gedenkrede auf Brenz nach dessen Tod, Brenz selbst habe ihm einst erzählt, er habe in seiner Jugendzeit "beinahe Tage und Nächte studierend zugebracht und sei oftmals gleich nach Mitternacht aufgestanden und mit seinem jüngeren Bruder, der sein Kopfkissen mitnahm, in die Stube gegangen, wo dieser sein Haupt zum Schlafe niederlegte, um dem Wachenden zum Troste nahe zu sein".(5) Auch später litt Brenz immer wieder unter Schlaflosigkeit.

Am 13. Oktober 1514 wird der begabte Schüler in Heidelberg als "Joannis Printz de Wyla" in die Universitätsmatrikel eingeschrieben und ist Angehöriger der "Schwabenburse" (Bursa realium) beim Augustinerkloster.(6) Der zwei Jahre ältere Philipp Melanchthon 1497-1560 ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Heidelberg; Brenzens enge Beziehungen zu dem 1512 nach Tübingen Weitergezogenen beginnen offenbar erst mit dem Zusammentreffen in Marburg 1529. Aber eine ganze Reihe älterer und jüngerer Mitstudenten und Dozenten sind später überwiegend als Vorkämpfer oder Anhänger der Reformation in Erscheinung getreten: Neben den schon erwähnten Bucer und Frecht wären zu nennen: Johannes Oekolampad 1482-1531 aus Weinsberg (später Reformator in Basel), bei dem Brenz Griechisch lernt, Johann Lachmann 1491-1538 aus Heilbronn, Theobald Gerlacher (Billicanus) um 1490-1554 Erhard Schnepf 1495-1558 der spätere Reformator in Hessen und Württemberg, Johann Geyling um 1495 - 1559 aus Ilsfeld, ferner Brenzens spätere Kollegen in Hall Johannes Isenmann (Eisenmenger) 1496/98-1574 und Michael Gräter 1492-1562 die Juristen Ludwig Hierter (später am Reichskammergericht, gest. 1539) und Johann Machtolf um 1495 - 1557 aus Esslingen, der Spiritualist und Historiker Sebastian Franck 1499-1542 der Hebraist Paul Fagius 1504-1549 und der aus Bruchsal stammende Schweizer Chronist Johannes Stumpf 1500 - um 1578 außerdem die späteren württembergischen Kanzler Nikolaus Müller genannt Mayer vor 1500 - 1549 und Johann Feßler 1502-1572 Immer wieder traf Brenz in seinem weiteren Leben Studiengenossen aus der Heidelberger Zeit; mit nicht wenigen blieb er lebenslang verbunden.

Bei seinem Grundstudium in der Artistenfakultät, bei dem er ganz im Sinne des Humanismus ausgebildet wurde, erwarb Brenz 1516 die akademischen Grade eines Baccalaureus und am 18. Oktober 1518 den des Magisters. Als Magister war er berechtigt, mit dem Studium der Theologie zu beginnen und gleichzeitig selbst Lehrveranstaltungen zu halten. 1519 wird Brenz Regens (Leiter) der Schwabenburse und 1520 erhält er zusätzlich eine Stelle als Kanonikus (Vikar) am Heidelberger Heiliggeiststift. In seinen exegetischen Vorlesungen - zuerst wohl über das Matthäusevangelium(7) - und wohl auch in gelegentlichen Predigten macht Brenz keinen Hehl daraus, daß er ein Anhänger Luthers und seiner biblischen Theologie ist. Da inzwischen – 1521 - das gegen Luther und seine Anhänger gerichtete Wormser Edikt ergangen war und der pfälzische Kurfürst bereits ein Verbot für von der Norm abweichende Lehrtätigkeit erlassen hatte, das offenbar auch direkt auf Brenz und Billican zielte, wurde die Lage für die beiden unsicher. So nahm Brenz ein Angebot, als Prediger nach Schwäbisch Hall zu gehen, dankbar an.

3: Prediger und Reformator in Hall

Im Jahr 1502 war in Hall an der Hauptkirche St. Michael von der Stadt selbst eine Prädikatur gestiftet worden. Sie sollte nicht nur den Einfluss des Rats auf das dem Würzburger Bischof unterstehende Kirchenwesen erweitern, sondern auch durch die Besetzung mit qualifizierten, humanistisch gebildeten Theologen dem Stadtklerus eine zuverlässige geistliche Führung geben. Auch Unzufriedenheit mit den Leistungen der Predigermönche des Barfüßerklosters mag eine Rolle dabei gespielt haben. Als 1522 die vakante Prädikatur wiederbesetzt werden sollte, berief man den jungen Heidelberger Magister Brenz, der am 8. September eine offensichtlich überzeugende Probepredigt gehalten hatte, auf die Stelle. 1523 empfing Brenz, wohl in seiner Heimatstadt Weil, die Priesterweihe und feierte seine Primiz, seine erste Messe; der Haller Rat ließ sich dabei vertreten durch eines seiner renommiertesten Mitglieder, durch den alten Salzsieder Hans Wetzel 1464-1530 (8) Bei der Anstellung von Brenz war man sich im Rat mit Sicherheit bewusst, daß der neue Prediger ein Lutheranhänger war. Aber solche "Parteigänger" saßen bereits auch im Haller Rat, eben zum Beispiel in der Person des einflussreichen Hans Wetzel. Sein Sohn Ludwig um 1498 - vor 1549 der am selben Tag wie Brenz in Heidelberg Magister geworden war, und vor allem der Studienfreund Isenmann dürften Brenz in Hall empfohlen haben. Isenmann wurde 1524 vom Rat die St. Michaels-Pfarrstelle übertragen, womit er Brenzens engster Mitarbeiter wurde. Und auch in der jenseits des Kochers gelegenen St. Katharinenkirche wirkte bereits seit 1521 mit Michael Gräter ein Anhänger der Reformation. Alle drei Theologen arbeiteten bis 1548 einträchtig in der Stadt zusammen, und durch die beiden Ehen von Brenz waren sie später sogar alle drei miteinander verwandt bzw. verschwägert.

Trotz dieser überaus günstigen Voraussetzungen wurde die Haller Reformation nur schrittweise und in bedächtigem Vorgehen durchgeführt. Das entsprach ganz dem Wesen und den Absichten von Brenz, der trotz seines jugendlichen Alters jeder Art von stürmischem oder womöglich gewalttätigem Reformeifer, jedem Zwang und jedem Radikalismus abhold war. Bei allen Änderungen setzte er allein auf die Macht und Wirkung des Wortes, auf die Predigt und seine theologische, an Luther geschulte Überzeugungskraft. So hielten sich auch die Kontroversen in Hall, wiewohl es auch hier vehemente Gegner der Reformation gab, in Grenzen.

1524 scheint es eine Disputation mit den Franziskanern gegeben zu haben(9), in deren Folge die Mönche das Barfüßerkloster mit der St. Jakobskirche "libere", also freiwillig, dem Rat übergeben und sich verheiratet oder lebenslange Pfründen im Spital angenommen haben.(10) 1526 wurde das Kloster dann endgültig aufgelöst. Von den Erträgen des Klosterguts hat der Rat einen Schulmeister samt Gehilfen besoldet und im Kloster neben regelmäßiger Predigt eine Lateinschule eingerichtet. Eine auf diese Schule sich beziehende Inschrift von 1527 am ehemaligen Barfüßerkloster nennt neben dem Schulmeister Johann Regulus (König) 1488/89-1570 und dem Pfarrer Isenmann auch den Prediger ("Ecclesiastes") Brenz und fügt seinem Namen den charakteristischen griechischen Wahlspruch "Speude bradeoos" - "Eile mit Weile" – bei.(11) Ebenfalls noch 1524 sind den Klerikern in der Stadt, sie hatten damals rund zwei Dutzend Pfründen in zwölf Kirchen und Kapellen inne, vom Rat die Konkubinen verboten worden: Sie mussten sich zwischen Entlassung und Heirat entscheiden.

An Weihnachten 1526 feierte Brenz in St. Michael mit der Gemeinde das erste evangelische Abendmahl in beiderlei Gestalt, also mit Gewährung des Laienkelchs.(12) Im sonntäglichen Hauptgottesdienst behält Brenz wie Luther die Liturgie der Messe bei, allerdings in deutscher Sprache und in reformatorisch "gereinigter" Form. Der lateinische Chorgesang der Schüler im Gottesdienst wurde ebenfalls weitergeführt und erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Hall aufgegeben. Katholische Messfeiern hat man in der Johanniterkirche und in der Schuppachkapelle - von Brenz heftig kritisiert - noch bis 1534 gehalten, wie überhaupt bis weit in die zweite Hälfte des Reformationsjahrhunderts noch eine altgläubige Minderheit im Rat saß; auch sonst regte sich in der Stadt immer wieder eine gewisse Opposition gegen das Neue.

4: Die Ordnung des Kirchen- und Schulwesens

Auf Anfang 1527 ist die "Reformation der Kirchen in dem Hällischen Land"(13) zu datieren, das berühmte große Gutachten von Brenz, das eine Art Entwurf zu einer Kirchenordnung für Hall darstellt. Diese endgültige Ordnung wurde dann noch im selben Jahr erlassen, sie ist aber nur in Teilen erhalten geblieben.(14) Die "Reformation" ordnet - soweit nicht schon zuvor geschehen - vor allem die neuen Gottesdienste, die Feiertage, den Kirchenbann, also die sehr umstrittenen kirchlichen Strafmaßnahmen, das Armenwesen, die Ehegesetzgebung und das Schulwesen. Dem Schul- und Bildungsauftrag galt Brenzens besondere Fürsorge. Er hält sowohl den Eltern als auch der Obrigkeit mit großem Nachdruck ihre hohe Verantwortung dafür vor: Die Jugend ist der höchste Schatz einer Bürgerschaft; "es begibt sich zuzeiten, dass ein redlicher frommer Burger durch sein Geschicklichkeit einem ganzen Land Übel verhindert, ja ist besser dann hundert Buchsen ... Woher kommt aber solcher Mann? Er entspringt freilich nit aus einem Felsen, so wächst er nit auf den Bäumen, sonder er wächst und entspringt aus der Jugend ... So man nun viel Kostens auf Buchsen wendt, warum wollt man unfleißig sein, auf den jungen Haufen doch etwas zu wenden, welch die besten Buchsen einer ganzen Stadt geacht werden".(15) Man läßt sich die Stadtbefestigung viel Mühe und Geld kosten, aber das reicht nicht. Die Jungen sind die besten zukünftigen Mauern einer Stadt: Mit ihrer sorgfältigen Erziehung kann man viel Übel vermeiden und so ist dem "gemeinen Nutzen" am besten gedient.

Den Vorschlägen von Brenz sollten alsbald Taten folgen: Es wurden neue, vom Rat besoldete Lehrer eingestellt und das Schulgeld, das bisher für die Armen den Zugang zur Schulbildung verhindert hat, entfiel. Zudem wurde ermöglicht, daß auch die Mädchen Unterricht erhalten – eine fast revolutionäre Neuerung für die damalige Gesellschaft. Seine Begründung: "Die Geschrift die Hl. Schrift gehort je nit den Mannen zu allein, sie gehort auch den Weibern zu, so mit den Mannen gleich ein Himmel und ewig Leben warten".(16)

Auch die Theologen selbst nahmen ihre Verantwortung zur Jugenderziehung wahr. Ebenfalls noch 1527 richtete Brenz in Hall Katechismusgottesdienste ein.(17) Für alle Reformatoren bildete die kontinuierliche Erziehung der Gemeinde im neuen Glauben und in ethischen Fragen eine vordringliche Aufgabe. Neben der Predigt dienten diesem Ziel vor allem die speziellen Katechismusgottesdienste und "Kinderlehren", die zwar in erster Linie an die "Jungen und Einfältigen" gerichtet waren, immer aber auch die übrige Gemeinde im Blick hatten. In diesem Zusammenhang entstand nun auch in Hall mit den "Fragstücken des christlichen Glaubens für die Jugend zu Schwäbischen Hall" Brenzens erster Katechismus als Zusammenfassung des Lehr- und Lernstoffs in einem handlichen Elementarbüchlein. Es erschien 1528 - im Jahr vor Luthers Kleinem Katechismus – im Druck, allerdings in einer nicht von Brenz autorisierten und offenbar auch veränderten und erweiterten Fassung, die er im Vorwort zu seinem 1535 veröffentlichten zweiten Katechismus deutlich kritisiert. Mit diesen zweiten "Fragstücken", einem der kürzesten und prägnantesten Katechismen der Reformationszeit, haben wir dann den berühmten eigentlichen Brenz-Katechismus vor uns. In 15 (seit 1553 18) Fragen und Antworten werden die sechs "Hauptstücke" Glaube (das Apostolicum), Gebet (das Vaterunser), Gebote (der Dekalog), die Sakramente Taufe und Abendmahl und das Predigtamt als "Schlüssel des Himmelreichs" behandelt. Die beiden berühmten und von vielen anderen Katechismen dann übernommenen Eingangsfragen lauten in der Fassung der württembergischen "Kleinen Kirchenordnung" von 1553: "Welches Glaubens bist du? Antwort: Ich bin ein Christ. Warum bist du ein Christ? Antwort: Darum dass ich glaub an Jesum Christum und bin in seinem Namen getauft".(18) Der Katechismus war in weit über 500 verschiedenen nachweisbaren Ausgaben verbreitet und wurde in mindestens 14 Sprachen übersetzt.(19) Er ist 1536 zum Landeskatechismus und fast zu einer Art Bekenntnisschrift für Württemberg geworden. Ende des 17. Jahrhunderts hat man den Katechismus hier um die Lutherfragen zum Credo, Vaterunser und Dekalog erweitert und in dieser Fassung ist er als der "Württembergische Katechismus" bis in die Gegenwart in Gebrauch. In einer ganzen Reihe weiterer Territorien war das Brenzsche Lehrbüchlein verbreitet oder offiziell eingeführt.

Eine umfangreiche Auslegung der Fragstücke von 1535, aus Haller Katechismuspredigten entstanden, erschien ab 1551 in mehr als 40 lateinischen, deutschen und fremdsprachlichen Ausgaben.(20) Das Buch gehört als Zusammenfassung der Theologie von Brenz zu den unzweifelhaft besten Werken des Reformators und ist, nächst den Fragstücken selbst, sein am weitesten verbreitetes und am häufigsten nachgedrucktes Werk.

Seine Katechismen und seine katechetische Kompetenz haben Brenz zu Recht den Ehrentitel eines "Zweiten Katechismusvaters unserer evangelischen Kirche" (21) nach Luther eingetragen.

Doch kommen wir zurück nach Hall. In Predigten legte Brenz nicht nur einen Großteil der biblischen Bücher und den Katechismus aus, predigend begründete und begleitete er auch die reformatorischen Maßnahmen, einzelne Ratsmandate, lokale und politische Ereignisse oder er nahm Stellung zu geistlichen Fragen. Vor allem aus der Predigttätigkeit ist das bedeutende schriftstellerische Werk des Haller Reformators entstanden, das zwar nach Luther, aber vergleichbar mit Melanchthon und Johannes Calvin 1509-1564 zu den umfassendsten im 16. Jahrhundert gehört.(22) Gerade seine exegetischen Schriften haben nicht nur die evangelischen Theologen in halb Europa bis ins 17. und 18. Jahrhundert ihren Predigten und Studien zugrunde gelegt, auch für manchen katholischen Theologen jener Zeit waren sie ein "Geheimtipp".

Zu Brenzens ersten Veröffentlichungen in Hall gehören die beiden Predigt-Flugschriften von 1523 "Ein Sermon zu allen Christen von der Kirche und von ihrem Schlüssel und Gewalt und vom Amt der Priester", in der der Verfasser sich mit der römischen Kirche auseinandersetzt, und der "Sermon von den Heiligen". Diese letztgenannte Predigt hielt der Haller Prädikant am Tag des großen Jakobimarktes, am 25. Juli 1523.(23) Das göttliche Verehren der Heiligen, die das selbst niemals gewollt hätten, versteht Brenz nahezu als Abgötterei. Das angebliche Verdienst der Heiligen komme allein Christus zu: "Wir bedürfen keines Kanzlers bei Gott als allein unsern Herrn Christum".(24) Verehrung, Geldgaben und Hilfe sollen die Christen nicht den toten Heiligen, sondern den lebenden zuwenden, und das sind die Armen, Bedürftigen und Unterdrückten. "Vollbring den Willen Gotts, so hast du das ganz himmelisch Heer geehrt!"

In all seinem Einsatz für Kirche und Gesellschaft wollte Brenz, der auch persönlich ein Mensch von großer Bescheidenheit blieb, nichts sein als der Prediger des göttlichen Worts, der den ihm anvertrauten Menschen Gottes Vergebung und damit "Leben und Seligkeit" als ein unermesslich reiches Erbe anbieten durfte.(25)

Politik und Kirchenpolitik vom Bauernkrieg bis zum Augsburger Reichstag

Es gab zu Zeiten von Brenz im deutschen Bereich kein größeres politisches oder kirchenpolitisches Ereignis, mit dem er nicht in irgendeiner Weise zu tun gehabt hätte. Das begann mit dem Bauernkrieg und dem Abendmahlsstreit und führte über die Reformationsreichstage und Religionsgespräche bis zum Schmalkaldischen Bund und Krieg, zum Interim und zum Trienter Konzil. Weiter war Brenz ein gefragter Berater und Gutachter bei den Reformationsmaßnahmen der benachbarten Territorien, so in Brandenburg-Ansbach und Nürnberg, in Heilbronn und anderen Reichsstädten, in Württemberg seit 1534/35 und nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 in weiteren Gebieten wie in Baden und in der Pfalz und später in Wesel, im Herzogtum Jülich-Kleve-Berg und in Braunschweig-Wolfenbüttel. Zahlreiche ehrenvolle Berufungen in Bischofs- und andere kirchenleitende Ämter oder auf Universitätslehrstühle hat Brenz vor und nach dem Interim abgelehnt, so Berufungen nach Frankfurt a.M., Augsburg, Straßburg, Magdeburg, Tübingen, Leipzig, nach Brandenburg, Ostpreußen, Dänemark und England.

Ein zentrales Thema und vielverhandeltes Problem war zwischen 1525 und 1548, zwischen Bauernkrieg und Interim, für die reformatorischen Theologen und Politiker die Frage des Widerstandsrechts bzw. überhaupt das Verhältnis von Obrigkeit und Untertan, zumal wenn diese in Glaubensfragen verschiedene Wege gingen.(26) Schon zu Beginn des Bauernkriegs lässt Brenz in der Schrift "Von Gehorsam der Unterton gegen ihrer Oberkeit" (1525)(27) keinen Zweifel, dass das neutestamentliche Gebot der Unterordnung und des Gehorsams gegenüber jeder Obrigkeit auch für die Bauern gelte: Sie haben kein Recht, sich unter Berufung auf die neue evangelische Freiheit und einzelne Schriftstellen gegen ihre Obrigkeiten aufzulehnen. Widerstand gegen die weltliche Gewalt ist Widerstand gegen Gott. Tut allerdings die Obrigkeit etwas gegen Gott bzw. verlangt von den Untertanen, Unrecht zu tun, dann darf man den Gehorsam verweigern, muss aber allerdings die Folgen erleiden, ohne zur Gewalt zu greifen. In diesem Sinne stellt sich Brenz gegen die Bauernunruhen. Nachdem dann allerdings die Fürsten den Aufstand niedergeschlagen hatten und blutige Rachejustiz übten, fiel er diesen in seiner Schrift "Von Milterung der Fürsten gegen den aufrührischen Bauern"(28) ebenso energisch in den Arm. Er erinnerte die Obrigkeiten an ihr Christsein und ihre Pflicht zu Vergebung und Milde, vor allem angesichts der Tatsache, dass sie auch "nit allweg Seiden gespunnen" und durch viel Unrecht gegenüber den Bauern wesentlich zum Aufruhr beigetragen hätten. Durch Härte und Unbarmherzigkeit entstehe jetzt nur neues Übel.

Wieweit man solche Mahnungen gehört hat, bleibe dahingestellt. Der Haller Rat jedenfalls, der im Bauernkrieg sehr glimpflich davongekommen war, musste doch immer wieder von seinem Prediger vor zu harten Abgabenbelastungen gegen die Landbevölkerung gewarnt werden.

Noch im selben Jahr 1525 wurde Brenz in einen theologischen Streit über das Abendmahl verwickelt.(29) Oekolampad, inzwischen Pfarrer in Basel, vertrat in einer Schrift die auf Ulrich Zwingli 1484-1531 zurückgehende symbolische Deutung der Einsetzungsworte des Abendmahls und widmete sein Buch seinen alten Heidelberger Studienfreunden, die in Hall und Umgebung wirkten oder als Pfarrer des schon früh lutherisch gewordenen Adels im Kraichgau eine Anstellung gefunden hatten. Diese schwäbisch-fränkischen Theologen antworteten Oekolampad mit einer von Brenz verfassten Gegenschrift, dem sog. "Syngramma Suevicum", in der sie die Abendmahlslehre Luthers vertreten, nämlich die "Realpräsenz" von Leib und Blut Christi ("das ist mein Leib" – nicht: "bedeutet meinen Leib"). Es ging Brenz und seinen Freunden dabei um die Glaubwürdigkeit des Wortes Gottes und der Verheißungen Jesu. Diese theologische Kontroverse zeigt schmerzlich den Gegensatz zwischen der Wittenberger und der Zürcher Reformation, ein Gegensatz, der die neue im Entstehen begriffene Kirche nicht wenig belasten sollte. Landgraf Philipp von Hessen 1504-1567 dem an einem politischen Bündnis der evangelischen Territorien gelegen war, wollte durch ein Religionsgespräch über das Abendmahl die Gegner versöhnen. Beide Seiten lud er auf Oktober 1529 nach Marburg ein. Das Gespräch vereinte zum ersten und einzigen Mal die führenden Reformatoren Luther, Melanchthon, Johannes Bugenhagen 1485-1558 Brenz, Zwingli, Bucer, Oekolampad und andere, aber es brachte nicht die erhoffte Einigung.

Schon im Frühjahr desselben Jahres hatten 19 evangelische Reichsstände auf dem Zweiten Speyrer Reichstag aus Gewissensgründen gegen den kaiserlichen Reichsabschied protestiert - daher rührt bekanntlich der Name "Protestanten". Sie lehnten nachdrücklich ab, daß das die Lehre Luthers verbietende Wormser Edikt von 1521 durchgesetzt und sie in Fragen des Glaubens majorisiert würden. Die taktierenden Vertreter Halls gehörten nicht zu den Reichsstädten, die die Protestation unterschrieben hatten, worauf Brenz seinem Magistrat "den Harnisch wohl gefegt" habe, wie der Chronist Johann Herolt 1490-1562 schreibt.(30) Die Kritik von Brenz hatte sogar den Sturz einiger Ratsherren zur Folge.

Auch im folgenden Jahr 1530 auf dem Augsburger Reichstag blieben die Haller vorsichtig und schlossen sich nicht den Unterzeichnern der Augsburger Konfession an, obwohl sie durchaus eine evangelische Stadt sein und auch bleiben wollten. Brenz nahm an diesem Reichstag als theologischer Experte im Gefolge Markgraf Georgs von Brandenburg-Ansbach 1484-1543 teil. Er war dann auch, in ständigem engen Kontakt mit Melanchthon, an praktisch allen Verhandlungen über das Bekenntnis und die "Apologie" beteiligt.(31) Vermutlich hat Friedrich Myconius 1490-1546 in seiner "Geschichte der Reformation" 1542 an diese Ereignisse gedacht, wenn er berichtet, dass Melanchthon oft gesagt habe, "er wollt lieber einen einzigen Brentium bei sich im Concilio haben, denn keinen andern Theologum. Denn da wäre Verstand und Verständlichkeit, Rat und Tat beieinander".(32) Aus dem intensiven damaligen Briefwechsel von Brenz, vor allem mit dem Kollegen Isenmann in Hall, und aus der wertvollen Reichstags-Überlieferung im Haller Stadtarchiv sind wir über die dramatischen Ereignisse in Augsburg gut unterrichtet. Auch hier wird deutlich, in welchem Ausmaß Brenz immer wieder an Vermittlung und Ausgleich gelegen war, bei allem Festhalten am klaren Bekenntnis. Und fest stand für ihn auch, dass gewaltsamer Widerstand gegen den Kaiser nicht infrage kam. Die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzung stand freilich beständig im Hintergrund. Brenzens Befürchtungen in dieser Hinsicht sollten in den Schlussjahren seiner Haller Zeit noch bittere Wirklichkeit werden.

5: Die Familie

Lange vor diesen dramatischen Ereignissen gründete Brenz einen Hausstand. Wurde der Haller Prediger noch auf dem Reichstag in Augsburg 1530 von dem einflussreichen altgläubigen Theologen Johann Cochläus 1479-1552 nur deshalb zum Gespräch empfangen, weil er nicht wie viele seiner evangelischen Kollegen das Zölibat gebrochen hatte(33), so heiratete Brenz bereits im Dezember desselben Jahres die junge Witwe seines im Sommer verstorbenen alten Gönners Hans Wetzel. Freund Isenmann hatte den Reformator in einem Brief nach Augsburg dazu ermuntert.(34) Margarete geborene Gräter 1500/01-1548 die Schwester seines Amtsbruders an St. Katharina, gebar ihm sechs Kinder.(35) Sie starb in Hall am 18. November 1548 an der Schwindsucht, als Brenz bereits auf der Flucht war. Ihr Sohn Dr. Johannes Brenz 1539-1596 Theologieprofessor in Tübingen, hat in den 60er Jahren seiner Mutter einen Gedenkstein errichten lassen, der noch in der Michaelskirche erhalten ist.(36)

Der Reformator hat dann im September 1550 in Dettingen a. d. Erms eine zweite Ehe geschlossen mit einer Nichte Johann Isenmanns, Katharina Isenmann um 1530 - 1587 Weitere 12 oder 13 Kinder gingen aus dieser Ehe hervor(37), wodurch Brenz zum Stammvater einer sehr zahlreichen Nachkommenschaft wurde. Während aber der letzte Brenz-Namensträger schon 1670 starb, hat über die Brenz-Töchter so mancher bedeutende Kopf der schwäbischen und deutschen Geistesgeschichte den Reformator zum direkten Ahnherrn: Die Reihe reicht hier von Johann Albrecht Bengel 1687-1752 und Johann Jakob Moser 1701-1785 über Ludwig Uhland 1787-1862 Wilhelm Hauff 1802-1827 Georg Wilhelm Friedrich Hegel 1770-1831 Ottilie Wildermuth 1817-1877 Hermann Hesse 1877-1962 und Bert Brecht 1898-1956 bis zu Dietrich Bonhoeffer 1906-1945 und den Brüdern Carl Friedrich geb. 1912 und Richard von Weizsäcker geb. 1920

6: Reformation in Württemberg

Von Hall aus stand Brenz, wie schon angedeutet, in fast ständigem Kontakt mit Markgraf Georg und mit den führenden Theologen in Ansbach und Nürnberg. So wurde der Haller Prediger folgerichtig auch an der langwierigen Beratung und Vorbereitung der dort erstellten Kirchenordnung von 1533 beteiligt. Sie wurde eine für Süddeutschland einflussreiche Ordnung, so auch für die württembergischen Gottesdienst-Agenden.(38)

Als 1534 Herzog Ulrich von Württemberg 1487-1550 sein Land nach der Habsburger Zwischenherrschaft zurückgewann und ungesäumt mit der Einführung der Reformation begann, war Brenz wiederum ein gefragter Berater und Gutachter. Im Sommer 1535 hielt er sich mehrere Wochen in Stuttgart auf, um mit den beiden Reformatoren Schnepf und Ambrosius Blarer 1492-1564 die notwendigen Ordnungen zu beraten, vor allem die Kirchen- und Gottesdienstordnung, die dann 1536 mit dem ihr eingefügten neuen Brenzschen Katechismus im Druck erschien, die Eheordnung und die Visitation. Schwierig gestaltete sich die Reformation der Universität Tübingen. Hier half zunächst im Herbst 1536 Melanchthon einige Wochen aus und bewog Brenz, ab April 1537 für ein Jahr lang einen der theologischen Lehrstühle zu versehen.(39) In dieses Jahr fällt auch der sog. "Uracher Götzentag" - 10. September 1537 -, ein Gespräch zur Lösung der ungeklärten und umstrittenen Bilderfrage.(40) Brenz und Schnepf setzten sich hier gegen Blarer für die Duldung der "unärgerlichen" Bilder in den Kirchen ein. In Hall und Umgebung sind dank dieser weitherzigen Haltung von Brenz die spätmittelalterlichen Altäre und viele weiteren Bildwerke erhalten geblieben.

Die Jahre bis zum Interim

Die 1540er Jahre brachten in Hall einen endgültigen Abschluss der Reformationsmaßnahmen und der Neuordnung des Kirchenwesens. 1542 war mit der Wiedererrichtung des Haller Landkapitels der organisatorische Zusammenschluss der Pfarrerschaft der Stadt und des Landgebiets erreicht; Johannes Isenmann wurde der erste Superintendent. Im Jahr darauf erschien die von Brenz verfasste endgültige Kirchenordnung im Druck: "Ordnung der Kirchen in eins ehrbaren Rats zu schwäbischen Hall Oberkeit und Gebiet gelegen".(41) Sie wurde 1615 und 1771 revidiert und galt so bis zum Anschluss Halls an Württemberg im Jahr 1802. Unter dem Datum des 1. Oktober 1543 erhielt Johannes Brenz vom Rat der Stadt eine Anstellung auf Lebenszeit, wobei ihm seine Geldbesoldung, die im Jahr 1522 nur 80 Gulden betragen hatte, nun auf jährlich 200 Gulden festgesetzt wurde. Das entspricht etwa der Besoldung eines gut etablierten Tübinger Universitätsprofessors, wobei jeweils noch die Naturalbesoldung hinzukommt.

Im letzten Jahrzehnt seiner Haller Tätigkeit wird Brenz verstärkt zu auswärtigen Angelegenheiten herangezogen, so vor allem zwischen 1540 und 1546 zu den Religionsgesprächen mit den Katholiken in Hagenau, Worms und Regensburg. Von ihnen erhoffte sich Kaiser Karl V. 1500-1558 eine Lösung der immer noch ungeklärten Religionsfrage – freilich vergeblich.

Auf dem zweiten Regensburger Religionsgespräch erfuhren die Teilnehmer im Februar 1546 von einem Boten aus Wittenberg den Tod Martin Luthers. Brenz und andere sind so erschüttert, daß sie ihren Tränen freien Lauf lassen. Die evangelischen Teilnehmer, so berichtet einer von ihnen, waren an diesem Tag zu keinen weiteren Verhandlungen in der Lage.(42) Im Vorwort zu seinem 1546/47 erschienenen Galaterkommentar widmet Brenz seinem Lehrer und Vater Luther einen bewegenden Nachruf.(43)

Wenige Wochen nach Luthers Tod begann der Schmalkaldische Krieg des Kaisers gegen die im Schmalkaldischen Bund seit 1531 zusammengeschlossenen protestantischen Reichsstände, deren Bundesmitglied seit 1538 auch Hall ist.(44) Die nun folgenden Ereignisse sollten zur schwersten Krise im Leben von Johannes Brenz führen.

Im Dezember waren die süddeutschen evangelischen Städte besiegt und Karl V. zieht an der Spitze seiner vor allem spanischen Truppen in Hall ein. Die Stadt muss horrende Strafgelder zahlen, die Quartierlast tragen und Plünderung, Mord und eine miteingeschleppte Seuche verkraften. Brenz, der selbst nur knapp einer Ermordung entging, soll zwar vor dem Kaiser eine Predigt gehalten und von ihm "gnädig" behandelt worden sein(45), aber doch wird auch sein Haus geplündert, und als belastende Dokumente dem Kaiser verfälscht wiedergegeben werden, muss Brenz aus der Stadt fliehen. Im Januar 1547 kann er noch einmal zurückkehren. Aber dann zwingt ihn das am 15. Mai 1548 erlassene "Augsburger Interim" zum endgültigen Verlassen der Stadt und seiner Kirche. Beiden hatte er 26 Jahre lang in großer Verantwortung und Treue mit dem Evangelium gedient.

Die Flucht nach Württemberg

Kolorierter Holzschnitt, nach 1568

Das sogenannte "Interim" war ein Reichsgesetz, das den evangelischen Reichsständen die Rückkehr zum alten Glauben befahl und "einstweilen" ("interim") bis zu einer Konzilsentscheidung Laienkelch und Priesterehe zugestand. Wie zahlreiche andere Theologen hat sich Brenz heftig und kompromisslos gegen dieses Gesetz ausgesprochen. In mehreren Gutachten und in einer in Magdeburg erschienenen Flugschrift(46) bezeichnet er das "Interim" als "Interitus" (Untergang) und die Wiedereinführung der alten Messe als Abgötterei. Zwar hält Brenz auch jetzt noch unverrückbar fest an seinem Prinzip des gewaltlosen Widerstands; das Evangelium kann nicht mit Mitteln gesichert werden, die Gott verboten hat. Aber doch macht sich Brenz Gedanken, ob Gott nicht einen Fürsten berufen könnte, der - alttestamentlichen Vorbildern entsprechend - die Sache seiner Kirche mit dem Schwert führen müsste. Aber dies zu erkennen ist schwer und angesichts möglicher Eigeninteressen gefährlich zu vertreten. So rät Brenz zum unermüdlichen Verhandeln und zum Ausnützen vorhandener Spielräume - wie man das in Württemberg ja dann auch erfolgreich getan hat.(47)

Kaiser Karl konnte sich ein derartiges öffentliches Bekämpfen eines Reichsgesetzes durch den obersten geistlichen Repräsentanten einer Reichsstadt begreiflicherweise nicht bieten lassen und erließ einen Haftbefehl gegen Brenz, den sein Kanzler Nicolas Perrenot de Granvelle 1484/86-1550 in Hall vollstrecken sollte. Durch eine gezielte Indiskretion erfuhr Brenz davon: "Domine Brenti, cito fuge, fuge!" – Fliehe, Herr Brenz, fliehe schnell! Er verließ am 24. Juni 1548, an seinem 49. Geburtstag, überstürzt und für immer die Stadt. Der enttäuschte Granvelle ließ daraufhin wieder die Spanier einmarschieren, die erneut die Bevölkerung drangsalierten. In St. Michael wurde wieder die katholische Messe eingeführt und die noch verbliebenen Pfarrer wurden verjagt und durch willfährige Interimspriester ersetzt.

Brenz wandte sich nach Württemberg, wo das Interim zwar auch galt, aber der ihm wohlgesonnene Herzog Ulrich war bereit, ihn zu schützen und zu verstecken. Er lebte so zunächst auf der abgelegenen Burg Hohenwittlingen bei Urach, später als Vogt "Huldrich Encaustius" auf Burg Hornberg bei Zwerenberg (Kreis Calw). Brenz musste dann aber Württemberg immer wieder für gewisse Zeiten verlassen und hielt sich in Straßburg, Basel und Mömpelgard auf, später auch teils kürzer, teils länger, in Mägerkingen auf der Schwäbischen Alb, in Sindelfingen und im nahegelegenen Schloss Ehningen bei Böblingen und zuletzt bis zur Übersiedlung nach Stuttgart im Sommer 1553 in Tübingen. In Mömpelgard und Basel lernte Brenz Herzog Christoph von Württemberg 1515-1568 kennen, der damals Statthalter in der zu Württemberg gehörenden burgundischen Grafschaft Mömpelgard war. Als Christoph im November 1550 nach dem Tod seines Vaters dessen Nachfolger wurde, war es für ihn selbstverständlich, den noch immer stellen- und heimatlosen Haller Theologen sofort zu einem seiner engsten Berater und Mitarbeiter zu machen, obwohl dieser "in der Schätzung des kaiserlichen Hofes einer der bestgehassten Männer damaliger Zeit" war.(48) Für den Herzog war es keine Frage, dass Brenzens Persönlichkeit unentbehrlich war für die anstehenden großen Aufgaben in Staat und Kirche nach dem Interim.

Aktualisiert am: 19.03.2018