Blumhardt, Johann Christoph

Von: Ising, Dieter

Johann Christoph Blumhardt (1805-1880)


Johann Christoph Blumhardt (1805-1880)

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bildersammlung, Nachlass Jäckh

Johann Christoph Blumhardt wurde 1805 in Stuttgart als Kind armer Leute geboren. Nach dem Besuch des Stuttgarter Gymnasiums und des Niederen Seminars Schöntal studierte er von 1824–1829 evangelische Theologie an Universität und Stift Tübingen. Nach dem Vikariat in Dürrmenz 1829/1830 wurde er Lehrer an der Missionsschule in Basel, wechselte 1837 als Pfarrgehilfe nach Iptingen und erhielt 1838 seine erste Pfarrstelle in Möttlingen. Dort erlebten er und seine Frau Doris geb. Köllner die Heilung der Gottliebin Dittus, die Erweckung des Dorfes und Heilungen zahlreicher seelischer und körperlicher Leiden. In Möttlingen entwickelte er die Anfänge seiner Theologie der Hoffnung, bevor er 1852 in Bad Boll ein Seelsorgezentrum gründete. Seine Erlebnisse und Hoffnungsgedanken machte er unter den internationalen Gästen Bad Bolls, auf zahlreichen Reisen und in einer Anzahl von Veröffentlichungen publik. Der unlängst erschienene Briefwechsel Johann Christoph Blumhardts (ca. 3.900 Dokumente) gibt darüber hinaus neue Einblicke in sein Leben und Werk.

Wir begegnen hier einem Theologen, der Gottes Zukunft eine zentrale Bedeutung zuweist und darüber hinaus vom Schon-jetzt des Erhofften sprechen kann. Er steht in einer Linie, die sich von Philipp Jakob Speners „Hoffnung besserer Zeiten" durch die Theologiegeschichte zieht und etwa bei Johann Albrecht Bengel, Friedrich Christoph Oetinger und Philipp Matthäus Hahn auf unterschiedliche Weise sichtbar wird. Bei Johann Christoph Blumhardt kulminiert sie in einer lebendigen Naherwartung, in einem radikalen Ernstnehmen der göttlichen Verheißungen, einem ökumenischen Denken, einer ganzheitlichen Seelsorge.

Es beginnt mit den rätselhaften Ereignissen um Gottliebin Dittus, eine junge Frau aus seiner Möttlinger Gemeinde. Sie haben Blumhardt unter aufgeklärten Zeitgenossen den Ruf eines Teufelsaustreibers eingebracht. Die anschließende Erweckung seiner Gemeinde glauben manche mit Hilfe psychoanalytischer Kategorien in den Griff zu bekommen. Damit verbundene Heilungen seelischer und körperlicher Erkrankungen haben ihn zudem als Wunderheiler erscheinen lassen.

Ein Blick auf die historischen Quellen ist angebracht. Die veröffentlichten Schriften und Briefe Blumhardts zeigen, dass es ihm um ein geistliches Neuwerden geht, um den oft schmerzlichen und dann befreienden Prozess der Selbsterkenntnis und Buße, das Ablegen frommer Halbheiten, die Bereitschaft, das Leben ohne Rückhalt nach dem Wort Gottes zu gestalten. Er gebraucht dafür das Wort „Bekehrung", setzt sich aber scharf ab von einem erzwingerischen Verständnis, das den Geschenkcharakter des Neuanfangs vergisst.

So drängt er nicht, sondern wartet, bis man zu ihm kommt. Und die ganze Möttlinger Gemeinde kommt, erschüttert von dem, was mit Gottliebin Dittus vorgegangen ist. In Blumhardts Amtszimmer können die Menschen reden, erzählen von sexuellen Problemen, von Alkoholismus, von Betrügereien. Was diese Situation von der des therapeutisches Gesprächs unterscheidet, ist das gemeinsame Gebet. Man steht vor Gott; er ist der Hörende und Antwortende, Blumhardt nur der Vermittler.

Die Antwort fällt entsprechend aus. Die Möttlinger machen nicht den Eindruck, sich bloß etwas von der Seele geredet zu haben. Im Ort weht eine andere Luft; aus freien Stücken trifft man sich in Gebetskreisen. Die Dokumente aus dieser Zeit geben nicht den Eindruck säuerlicher Frömmigkeit, auch nicht den eines schwärmerischen Enthusiasmus. Man achtet auf geistliche Nüchternheit; kein Strohfeuer soll es werden, sondern eine Gemeinde, von der etwas ausstrahlt.

Es kommt zu Heilungen seelischer, aber auch körperlicher Krankheiten. Anfangs ist Blumhardt selbst überrascht, dann versteht er dies genauso wie die Erweckung als Geschenk Gottes. Ihr gegenüber ist Heilung sekundär, eine zusätzliche Gabe, die sich ebenfalls nicht erzwingen lässt. In den Berichten kommen Beteiligte und Zuschauer, nicht nur Blumhardt, zu Wort. Da ist von Zwangsvorstellungen die Rede, von Magenbeschwerden, aber auch von Gliederweh, Unterleibskrankheiten, Sehbehinderungen. Epileptiker erzählen von Blumhardts Gebet und dem erschütternden Eindruck der Gegenwart Gottes; einige von ihnen sind darauf jahrelang anfallsfrei.

Als Menschen des 21. Jahrhunderts haben wir das Recht, hier nachzufragen. In der Tat kommt Bekanntes ins Spiel wie etwa Autosuggestion, die feste Überzeugung, bei Blumhardt geheilt zu werden. Verschüttete Energien werden mobilisiert. Die Einfühlsamkeit des Seelsorgers und seine pädagogische Begabung tun ein Übriges. Dennoch lässt sich der deutliche Eindruck nicht verwischen, dass sich etwas ereignet, was sich wissenschaftlicher Deutung letztlich entzieht. Rationale Betrachtung ist notwendig, rationalistische Befangenheit dagegen überflüssig. Und so ist es ein Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit, den Horizont aufklärerischen Weltverständnisses offen zu halten. Es geht nicht gegen die Aufklärung, es geht um ihre Tiefe.

Christen reden hier vom Wirken des Heiligen Geistes, das Menschen verändert und sie dazu bringen kann, gegen gesellschaftliches Unrecht aufzustehen, für Versöhnung einzutreten, aber ihnen auch das Geschenk seelischer und leiblicher Heilung macht.

Dies alles versteht Blumhardt als Teil eines Prozesses, der auf seine eigentliche Erfüllung noch hintreibt. Nur ein Vorgeschmack kann es sein angesichts des Elends in der Welt. Auf eine neue Ausgießung des Heiligen Geistes hofft er, die bald eintreten wird, so bald, dass man sie mit Händen greifen kann. Danach wird Christus sein Reich aufrichten.

Blumhardts Naherwartung hat sich nicht erfüllt. Werden Möttlingen und Bad Boll damit letztlich zu Peinlichkeiten der Kirchengeschichte? Offensichtlich ist das Kommen von Gottes Reich nicht auf einer linearen Zeitschiene zu denken. Gottes Geschichte mit den Menschen ist kein Intercityexpress, der über die Stationen „Geistausgießung" und „Christi Wiederkunft" planmäßig die heilsgeschichtliche Vollendung erreicht. Daher hat Jürgen Moltmann von „messianischen Augenblicken" gesprochen, die sich in der Geschichte ereignen. Sie sind nicht von Dauer, sondern Impulse, die neu auf Gottes Zukunft weisen, Umkehr ermöglichen, Kräfte freisetzen. Die Kräfte wirken und verlöschen wieder; neue messianische Augenblicke werden erhofft.

Was hindert daran, auch Möttlingen und Bad Boll in dieser Weise zu verstehen? Nicht als Zeugnisse einer „schönen" Vergangenheit stehen sie dann vor uns, sondern als messianischer Augenblick, der damals Zukunft eröffnet hat und dies auch heute tun kann.

Aktualisiert am: 06.03.2024