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Von: Ising, Dieter
Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782)
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Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782), Kupferstich
Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bildersammlung, Nr. 2425
Evangelischer Theologe, württembergischer Pfarrer und Prälat, geboren in Göppingen 2.(oder 6.)Mai 1702, gestorben in Murrhardt 10. Februar 1782. 1722–1727 Studium im Tübinger Stift, 1729–1730, 1733–1735 und 1735–1737 ausgedehnte Reisen u.a. nach Halle und Herrnhut, 1731–1733 und 1737–1738 Repetent, 1738 Pfarrer in Hirsau, 1743 in Schnaitheim, 1746 in Walddorf, 1752 Dekan in Weinsberg, 1759 Dekan in Herrenberg, 1766 Prälat in Murrhardt.
Ein junger Mann, Klosterschüler in Bebenhausen und kurz vor dem Übergang ins Tübinger Stift, steht vor einer bedeutsamen Weichenstellung. Er, der hochbegabte Friedrich Christoph Oetinger, eine strahlende Erscheinung, hat sich zu entscheiden zwischen der Laufbahn eines Juristen, die ihm den Weg in hohe politische Ämter verspricht, und dem geistlichen Stand. Seine ehrgeizige Mutter liegt ihm in den Ohren, den weltlichen Weg zu gehen; der Vater bedroht ihn dagegen „mit einer Art des Fluchs“, sollte er die Ausbildung zum württembergischen Pfarrer abbrechen. Oetinger ist sich selbst nicht im Klaren. In der Not wendet er sich an seine Lehrer in Bebenhausen und den Onkel Elias Camerer, Professor der Medizin in Tübingen. Auch sie tendieren dazu, er habe „kein geistlich Fleisch“ und solle die geistliche Ausbildung verlassen (Oetinger Genealogie: 46 f.).
Oetinger tut das Richtige. Er hört auf seine innere Stimme und bemerkt in sich „eine viel grössere Neigung zur Gottseeligkeit, als der Aussenschein angibt“. In seiner Kammer fällt er auf die Knie, hält die weltliche Laufbahn und ihr Sozialprestige gegen ein Leben als Diener Gottes. Und da kommt es ihm: „Deo servire Libertas“ – Gott dienen ist Freiheit. „Auff dieses rieff ich Gott von ganzem Herzen an, mir alle Absichten auf die welt aus der Seele zu nehmen, und das geschahe so gleich.“ Von da an ist er ein anderer Mensch. Galante Kleidung bedeutet ihm nichts mehr; den Cicero legt er beiseite und greift zur Bibel (Oetinger Genealogie: 47 f.).
Der Oetinger, der 1722 ins Stift einzieht, hat sich seine Entscheidung erkämpfen müssen. Er hat den befreienden Gott erlebt, nicht einen Gott, der Kadavergehorsam fordert. Und so bleibt er – auf seiner neuen, geistlichen Basis – ein Gottsucher, der seine Lehrer und sich selbst fordert. Den „Grund der theologischen warheiten“ will er wissen. Leidenschaftlich setzt er sich verschiedenen Begegnungen aus, etwa mit den Inspirierten um Friedrich Rock, deren prophetische Aussagen er anhand der biblischen Prophetie prüft und sich schließlich von Rock lossagt. Aber nicht nur das, was Gott mit seiner Schöpfung vorhat, treibt Oetinger um, sondern auch, wie Schöpfung geschehen ist und geschieht. Georg Bernhard Bilfingers Vorlesungen über die Philosophie von Leibniz und Christian Wolff imponieren ihm. In diese damals neuen Gedankengänge taucht er ein und hängt eine Zeitlang der Leibnizschen Monadenlehre an, wonach Gott als Urmonade Körper und Seele der Menschen schafft, die nur Anhäufungen metaphysischer Punkte sind und nicht aufeinander wirken können, es sei denn als Folge einer von Gott geschaffenen „praestabilierten Harmonie“. Dann wendet sich Oetinger der Philosophie von Nicholas Malebranche zu, die das Wechselspiel von Körper und Seele nur durch wiederholte Eingriffe Gottes erklären kann. Aber auch damit ist er nicht zufrieden und liest ruhelos im Neuen Testament.
Seine bekannte Begegnung mit Johann Caspar Obenberger, dem Betreiber der Tübinger Pulvermühle, findet etwa 1725 statt, fällt also in diese Zeit. Obenberger, ein Anhänger Jacob Böhmes, hat sich einen Schutzraum gegraben, um den für die nahe Zukunft erwarteten Fall Babels (Apk 18) zu überleben. „Babel“ ist für Böhme auch die Kirche seiner Zeit, und so treffen mit dem Stiftler Oetinger, der sich auf den Kirchendienst vorbereitet, und dem Anhänger Böhmes zwei Welten aufeinander. Obenberger redet Klartext: „Ihr Candidaten seyd gezwungene Leute, ihr dürft nicht nach der Freyheit in Christo studieren; ihr müßt studieren, wozu man euch zwingt“ (Oetinger Genealogie: 61). Er zeigt ihm eine Schrift von Jacob Böhme. Oetinger stutzt, leiht sich das Buch aus und ist von dessen dynamischer Schöpfungslehre begeistert. Oetinger verabschiedet sich von der aus Leibniz und Malebranche gezogenen Vorstellung, als ob Schöpfung durch das ewige Wort Gottes eine Matrix erzeugt habe, in welcher wie in einem Mutterleib alle künftig zu gebärenden Menschen „in Speculis monadicis in monadischen Abbildern stille stehen“. Schöpfung, wie sie Böhme versteht, ist dagegen ein göttlicher „actus purissimus“, ein dynamisches Geschehen, welche aus dem Gegenspiel von göttlichem Zorn, Liebe und Geist hervorgeht. Bei aller Faszination legt Oetinger jedoch Wert darauf, „kein Nachäffer“ Böhmes zu sein; dieser habe im Bemühen, unsagbare Worte zu sagen, auch Fehler gemacht (Oetinger, Genealogie, 63 f.). Oetingers Erstlingswerk würdigt Böhmes Entwurf unter dem Titel Aufmunternde Gründe zu Lesung der Schrifften Jacob Boehmens (1731).
Zumindest ist für ihn der Schritt vollzogen weg von einer atomisierenden Schöpfungslehre, die Gott als vollkommenen Intellekt definiert, der an die von ihm geschaffenen Naturgesetze gebunden sei (Christian Wolff). Hier kann die biblische Offenbarung nichts über die Vernunft hinaus lehren. Oetingers Magisterdisputation vom Mai 1725, die er unter dem Vorsitz des Professors für Metaphysik Christian Hagmajer hält, befasst sich mit Wolffs Satz vom hinreichenden Grund der Erkenntnis. Hagmajer hält Wolffs Ansicht für „mangelhaft“ (Oetinger Genealogie: 69), was Oetingers Zweifel bestärkt. In der Folgezeit studiert er die Bibel, die Kirchenväter und auch rabbinische Literatur. Seine Frage nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, hat sich vom Rationalismus gelöst und wird zur Frage nach den „letzten Begriffen“ bei Jesus und den Aposteln. Oetingers Resümee: Jesus hat die Grundbegriffe des Lichts und der Finsternis gebraucht (vgl. Mt 6,23; 10,27 u.ö.), und auch die Apostel haben ihr Erkennen so verstanden: „Gott, der das Licht aus der Finsterniß geruffen, hat einen hellen Schein in unser Herz gegeben [2 Kor 4,6]: das ist genug für uns.“ Man muss „der heiligen Schrift ihre Gränzen respectiren“ (Oetinger Genealogie: 77 f.).
Dabei will Oetinger die Bedeutung der Vernunft keineswegs herabwürdigen – im Gegenteil, sie ist für ihn ein äußerst effektives Werkzeug. Aber muss man Werkzeuge anbeten, indem man ihre Bedeutung absolut setzt? Was er in der Bibel, bei den Kirchenvätern und Rabbinen findet, sagt ihm übereinstimmend: Allem zugrunde liegt das Handeln Gottes als Schöpfer und Vollender der Welt; beides ist der Vernunft auf direktem Wege nicht zugänglich, sondern nur aufgrund göttlicher Offenbarung. Kein Irrationalist will Oetinger sein, sondern ein Ideologiekritiker der menschlichen Vernunft.
In den folgenden Jahren wird Oetinger hervorheben, dass die Vernunft – unbeschadet ihrer Grenzen – die Spuren göttlichen Handelns in der Schöpfung nachvollziehen könne. Dies geschehe, indem man die Bibel nicht auf rationalistische Weise in „leere und entkräftete Sätze verwandelt“, sagt er in der Lehrtafel der Prinzessin Antonia (1763). Stattdessen habe man Gottes in der Bibel geschilderten Naturwerke, die von ihm geschaffene belebte und unbelebte Welt, zu erforschen – nicht allein mit Verstand und Empirie, sondern auch mit Hilfe eines von Oetinger postulierten allgemeinen Wahrheitsgefühls aller Menschen, das er als sensus communis oder „Weisheit auf der Gasse“ bezeichnet. Dann werde das Lesen im Buch der Natur zur Verstehenshilfe für das Buch der Schrift. Beides gehöre zusammen und führe zu einem Gesamtsystem der Wahrheit, der „Heiligen Philosophie“ (philosophia sacra).
Im Herbst 1727 legt er das theologische Examen ab. Die Stiftszeugnisse bescheinigen ihm gute geistige Anlagen, Fortschritte vor allem im Studium der systematischen und praktischen Theologie sowie eine aus seinem Verhalten hervorleuchtende Frömmigkeit („e moribus elucet pietas“; zitiert nach Ehmann: 57).
Seine unter inneren Kämpfen gewonnene Erkenntnis verteidigt er auch in der Folgezeit mit Nachdruck. Als eine 1728 veröffentlichte Schrift seines früheren Bebenhausener Lehrers Israel Gottlieb Canz versucht, die Leibniz-Wolffsche Philosophie auf die Theologie anzuwenden, stellt er ihn zur Rede: „Ich gieng einmahl zu Prof. Canz und obtestirte beschwor ihn, ob er sich getraute, gewiß zu seyn, daß die Apostel und Jesus Christus eben diese lezte Begriffe gehabt wie er, und ob er nach dem tod sie eben so finden werde, als er es dreiste im Lehren vorgebe. Er sagte: Ja; ich aber sagte: Nein; er werde sie nicht so finden“ (Oetinger Genealogie: 74). In einem Brief vom 19. Januar 1728 an Johann Albrecht Bengel, als dessen Tübinger Korrespondent Oetinger seit 1727 fungiert, macht er seinem Ärger Luft: Das Werk von Canz sei eine „nova a Sacrae conceptibus Scripturae diversio“, eine neue Abweichung von den Gedanken der Heiligen Schrift (Bengel Briefe 1723–1731).
Das Amt dessen, der Bengel über Tübinger Vorkommnisse und neu erschienene theologische Literatur auf dem Laufenden hält, hat Oetinger 1727 vom zwei Jahre älteren Jeremias Friedrich Reuß übernommen, der als Hauslehrer nach Stuttgart geht. Diesem, dem ehemaligen Lieblingsschüler in Denkendorf, vertraut Bengel seine apokalyptischen Berechnungen an, welche die Zahl des in Apk 13 genannten widergöttlichen Tiers als 666 bestimmen: „Inveni numerum bestiae, Domino dante“ (Bengel an Reuß 22.12.1724, in: Bengel Briefe 1723–1731). Diese Eingebung vom 1. Advent 1724 arbeitet Bengel weiter aus und meint, einen Schlüssel gefunden zu haben, um vergangene und künftige Ereignisse in ein endzeitliches Schema einordnen zu können. Von Anfang an erhält Oetinger von Reuß Einsicht in die Bengelschen Briefe. Oetinger betrachtet Bengel als Autorität, wenn es um das rechte Verstehen der Bibel geht. Im April 1733 wird er in dem Bemühen, den Grafen Zinzendorf von Bengels System zu überzeugen, mit diesem einen Besuch in Denkendorf machen. Auch als Oetinger in den folgenden Jahren – wieder unter schweren Kämpfen – Zinzendorfs Bibelverständnis den Abschied gibt, ist ihm die vertraute Beziehung zu Bengel hilfreich.
Als examinierter Stiftler bleibt man, dem damaligen Brauch folgend, im Stift und kehrt nach Vikariaten oder Reisen wieder dorthin zurück, bis man eine feste Anstellung im Kirchendienst gefunden hat. Für Oetinger gilt diese Regel mit Einschränkungen, die von der Stiftsleitung offensichtlich gebilligt werden. Als seine Mutter am 19. Juli 1727 in Göppingen gestorben ist und ihn in einem Abschiedsbrief ermahnt hat, sich um die jüngeren Geschwister zu kümmern, unterrichtet er nach dem Examen im Herbst 1727 seine drei Brüder in Tübingen, im Haus des herzoglichen Finanzbeamten Georg Gottfried Härlin. Im November 1728 werden Oetinger und seine Brüder krank und müssen sich ins heimatliche Göppingen begeben. Von dort kehrt er erst an Georgii (23. April) 1729 ins Stift zurück, um sich danach auf seine erste wissenschaftliche Reise zu begeben, die ihn nach Frankfurt am Main, Jena, Halle, Herrnhut und Berleburg führt. Seit Ende 1730 wieder in Tübingen, wird er 1731 Repetent am Stift (Oetinger Genealogie: 88–106). Es folgen zwei weitere längere Reisen in den Jahren 1733–1737. Danach unterrichtet Oetinger wieder als Repetent in Tübingen, bis ihm 1738 seine erste Pfarrstelle in Hirsau übertragen wird (Oetinger Genealogie: 108–127).
Hier ist nicht der Ort, die Erlebnisse und Begegnungen auf diesen Reisen zu schildern. Oetinger ist in seiner autobiographischen Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes-Gelehrten ausführlich darauf eingegangen, auch auf die weiteren Lebensstationen als Pfarrer in Schnaitheim (1743) und Walddorf (1746), als Dekan in Weinsberg (1752) und Herrenberg (1759) sowie als Prälat in Murrhardt (1766). Darüber hinaus ist die Selbstbiographie eine wichtige Quelle für sein Verhältnis zu Zinzendorf, für Oetingers spätere alchemistischen Versuche, seine ambivalente Würdigung des Geistersehers Swedenborg und die Auseinandersetzungen mit dem Konsistorium. Ergänzendes Quellenmaterial bietet Oetingers Briefwechsel mit Bengel, Friedrich Christoph Steinhofer, Ludwig Friedrich Graf zu Castell-Remlingen und anderen (Auszüge in Ehmann: 429–836; vgl. Bengel Briefe 1723–1731).
Oetinger war mehr als ein aufmüpfiger Stiftler. Er hat sich dem zeitgenössischen rationalistischen Trend entgegengestellt, ohne die Bedeutung der Vernunft zu leugnen. Aus einem immensen theologischen und naturwissenschaftlichen Wissen schöpfend, hat er auf der Höhe seiner Zeit und in den Grenzen seiner Zeit einen Gegenentwurf formuliert, mutig und angesichts zahlreicher Kritiker, die ihm das Leben schwer machten. Wir haben Oetinger nicht zu kopieren, aber seinen Versuch einer Ideologiekritik der menschlichen Vernunft zu achten.
Zuerst veröffentlicht in: Volker Henning Drecoll, Juliane Baur, Wolfgang Schöllkopf (Hgg.), Stiftsköpfe. Tübingen: Mohr Siebeck 2012, S. 76–82. Mit freundlicher Genehmigung.
Aktualisiert am: 04.06.2024
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