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Von: Ising, Dieter
Inhaltsverzeichnis
Christoph Friedrich Blumhardt (1842-1919)
1: Familienverhältnisse
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Christoph Friedrich Blumhardt (1842-1919)
Landeskirchliches Archiv, Bildersammlung, Nachlass Jäckh
Vater: Johann Christoph (16.7.1805–25.2.1880), Pfarrer in Möttlingen und 1852 Leiter von Bad Boll. Mutter: Dorothea (Doris), geb. Köllner (1816–1886). Geschwister: Maria (1840–1923); Carl (1841–1892), Fabrikant bei Elberfeld; Theophil (1843–1918), Pfarrer im Dorf Boll; Rahel (* und † 1845); Nathanael I. (* und † 1846); Nathanael II. (Landwirt in Bad Boll, dann Neuseeland); Bertha (1853–1854). Am 12.5.1870 heiratet Christoph Friedrich Blumhardt die Tochter des Hofgutpächters von Einsiedel, Emilie Pauline geb. Bräuninger (7.12.1849–14.9.1929).
Kinder: Dorothea (1872–1947) ¥ Theophil Brodersen; Herrmann (1873–1909), Arzt; Clara (*1874) ¥ Johannes Weber; Katharina (1875–1960), Hebamme; Elisabeth (1877–1962) ¥ Dr. Eduard Vopelius; Salome (1879–1958) ¥ Prof. Richard Wilhelm; Friedrich (1881–1941), Farmer in Neuseeland ¥ Martha geb. Honeck; Hanna (1883–1971), Lehrerin ¥ Prof. Hermann Bohner; Georg (1885–1918), Diplomingenieur; Gottliebin (1889–1976), Lehrerin; Immanuel (1892–1916), Landwirt.
2: Biographische Würdigung
Geboren zu einer Zeit, als sein Vater Johann Christoph die erkrankte Gottliebin Dittus, eine junge Frau aus der Möttlinger Gemeinde, seelsorgerlich betreute, hat Christoph Blumhardt die Anfänge der Möttlinger Bewegung miterlebt. Die Erweckung der Gemeinde, Gebetsheilungen, der Zustrom Auswärtiger und die öffentliche Kritik an seinem Vater haben seine Kindheit bestimmt. 1852 zog die Familie nach Bad Boll, wo der Vater im Kurhaus ein Seelsorgezentrum gründete, das Menschen aus ganz Europa besuchten. Die durch Erweckungen und Heilungen verstärkte Hoffnung des Vaters auf eine baldige Ausgießung des Heiligen Geistes über die ganze Welt prägte auch Christoph Blumhardt.
Im Tübinger Theologiestudium (1862–1866) beschäftigten ihn die Reibungsflächen zwischen dem Erleben in Bad Boll und der „wissenschaftlichen Sphäre der Theologie“. Er setzte sich der wissenschaftlichen Kritik aus, gab aber das im Elternhaus erworbene Fundament seiner Glaubensüberzeugung nicht preis. Nach dem 1. Theologischen Examen wurde er Vikar im badischen Spöck bei Pfarrer Peter, einem Freund des Vaters und Nachfolger von Aloys Henhöfer. Vikariate an wechselnden Orten führten ihn in die Nähe Bad Bolls. Vom Vater früh als Nachfolger ins Auge gefasst, plagten ihn Zweifel, ob er dieses Amt nicht bloß als Epigone, sondern im vollmächtigen Sinne werde ausüben können.
Etwas ratlos wurde er 1869 Vikar und Sekretär seines Vaters. Erst als Gottliebin Dittus, die mit ihren Geschwistern den Blumhardts nach Bad Boll gefolgt war, 1872 im Sterben lag und die Umstehenden mit ihrer entschiedenen Hoffnung auf Gottes Reich beeindruckte, gewann Christoph Blumhardt einen eigenen Zugang zum avisierten Beruf. Nach des Vaters Tod übernahm er 1880 die Leitung Bad Bolls, das er anfangs ganz in dessen Sinne führte.
Bald wurde ihm klar, dass dieses als geistliches Zentrum nur fortbestehen konnte, wenn neue Wege eingeschlagen wurden. So konnte er den frommen Egoismus der Heilungsuchenden in Bad Boll, den bereits der Vater misstrauisch beäugt hatte, mit der biblischen Hoffnung: „Dein Reich komme!“ nicht in Einklang bringen. Ende 1893 stellte Christoph die Predigttätigkeit im Kurhaus für einige Zeit ein. 1898 wurde zudem die ständige seelsorgerliche Inanspruchnahme durch ein Herzleiden in Frage gestellt.
An der Gültigkeit der Möttlinger Erfahrungen hielt er fest. Seine Kritik traf jedoch nicht nur den Heilungsegoismus, sondern auch die Stellung seines Vaters zu Mission und Kirche. Deren Bedeutung für das Reich Gottes konnte Christoph Blumhardt nicht mehr sehen.
Die mit Kolonialismus einhergehende Mission seiner Zeit war ihm ein Dorn im Auge. Seine Überzeugung, man müsse auf dem Missionsfeld von der Vorstellung des „armen Heiden“ wegkommen, vielmehr mit den Menschen auf Augenhöhe verkehren, gab dem Missionsverständnis einen wichtigen Impuls. Dabei ging er jedoch so weit, Mission und Taufe selbst in Frage zu stellen. Die Menschen sollen, so meinte er, vom neuen Geist Christi beseelt werden; dieser komme aber „nicht aus äußerer Taufe“. Die Sakramente seien „kein Gemeinschaftsleim“, sondern machten nur „lüstern nach mehr und noch intensiveren Hypnosen“ (Christoph Blumhardt an Richard Wilhelm, 26.4.1902; in: Christus in der Welt, 82 f.).
Auch die Bedeutung der Kirche für das Reich Gottes wurde ihm fraglich. Wiederum ging es um die Kirche seiner Zeit, die sich in der sozialen Frage auf das Verbinden von Wunden beschränkte (Wicherns Innere Mission), aber nicht die Machtfrage stellte. 1899 wurde Christoph Blumhardts Eintreten für den Sozialismus von der Stuttgarter Kirchenleitung mit der Aufforderung beantwortet, den Pfarrertitel abzulegen. Dem kam er nach und schied aus dem Dienst der Württembergischen Landeskirche aus.
Äußerer Anlass war für ihn die sogenannte „Zuchthausvorlage“ im Berliner Reichstag. Arbeiter, welche arbeitswillige Kollegen beim Betreten des Betriebs behindern, wurden mit Zuchthaus bedroht. In einer sozialdemokratischen Versammlung in Göppingen stellte Christoph Blumhardt klar, dass er eine Parteinahme für die Niedrigen als Nachfolge Jesu ansah, der so betrachtet auch ein Sozialist gewesen sei. Das „Antwortschreiben an seine Freunde“ bekannte sich zur Gleichachtung aller Menschen, auch der Proletarier, die „auf Erden nicht nur geplagte, sondern selige Geschöpfe Gottes sein sollen“. Im Jahr 1900 trat er in die SPD ein; im Wahlkreis Göppingen wählte man ihn mit großer Mehrheit in den württembergischen Landtag.
In der SPD erkannte er gelebte Nachfolge Christi; zugleich versuchte er, die Partei im Geist des Evangeliums zu beeinflussen. Damit wurde Christoph Blumhardt zu einem der Väter des Religiösen Sozialismus. Der kapitalistischen „Herrschaftsmoral“ setzte er eine „Gemeinschaftsmoral“ entgegen, die zur gemeinschaftlichen Verwaltung der Produktionsmittel führen sollte. Die Forderungen blieben im Grundsätzlichen, weil historische Erfahrungen mit Kommunismus und Stalinismus auf der einen Seite und mit Sozialer Marktwirtschaft auf der andern noch fehlten. Dennoch wurde Blumhardts Profil sichtbar, der – bei deutlicher Wahrnehmung des Klassengegensatzes - den Klassenkampf in Form einer gewaltsamen Machtergreifung des Proletariats ablehnte: „Da steht Trotz gegen Trotz, und es schweigt der höhere Ton des Reiches Gottes.“ Ungeachtet harter Auseinandersetzungen sah er den Sozialismus angetrieben durch die versöhnenden Kräfte des Reiches Gottes. Die grundsätzliche Ausrichtung des politischen Handelns auf den kommenden Christus, der zudem als der eigentlich Handelnde gesehen wurde, war ihm wichtig. Sein Briefwechsel mit dem Schweizer Pfarrer Howard Eugster-Züst macht es ganz deutlich: „Es wird schließlich Gottes Reich heißen, nicht sozialdemokratisches Reich.“ Damit geriet er in Konflikt mit seiner Partei.
Karl Barth, der das theologische Denken bis heute entscheidend geprägt hat, lernte als Student Christoph Blumhardt in Bad Boll kennen. Die Einsicht, dass das kommende Gottesreich nicht ohne weiteres mit menschlichem Fortschrittshandeln identisch ist, taucht in Barths Dialektischer Theologie wieder auf. Einfluss übte Blumhardt auch auf Eduard Thurneysen, Hermann Kutter und Leonhard Ragaz. Sozialdemokratische Persönlichkeiten wie Clara Zetkin besuchten Bad Boll; August Bebel schrieb anerkennende Worte.
Nach dem Verzicht auf eine erneute Kandidatur für den Landtag erkrankte Christoph Blumhardt 1906 auf einer Palästinareise an Malaria. Er zog sich nach Jebenhausen ins Haus Wieseneck zurück, hielt aber weiter Predigten im nahen Bad Boll. Frühzeitig warnte er vor dem drohenden Weltkrieg. Nach einem Herzanfall 1911 übernahm Eugen Jäckh einen Teil der Predigten. 1917 machte ein Schlaganfall den endgültigen Rückzug in die Stille notwendig.
Die Besitzverhältnisse des Kurhauses wurden neu geregelt. Bislang im Besitz der Familie Blumhardt, wobei Christoph Blumhardt als Generalbevollmächtigter der Vermögensgemeinschaft vorstand, wurde 1913 die Bad Boll GmbH gegründet. Als Geschäftsführer berief man den Basler Theologen Samuel Preiswerk, der zugleich die Funktion des Hausvaters übernahm; sein Nachfolger wurde Blumhardts Schwiegersohn Eduard Vopelius. Nach Christoph Blumhardts Tod 1919 beschloss der engere Freundeskreis, dem auch die Weggefährtin Anna von Sprewitz angehörte, die Herrnhuter Brüdergemeine zu bitten, Bad Boll als Geschenk zu übernehmen und im Blumhardtschen Sinne weiterzuführen.
Die alte Gewohnheit, Johann Christoph Blumhardt in kirchlich-„konservativen“ Kreisen, Christoph Blumhardt dagegen in kirchenpolitisch „progressiven“ Gruppen – jeweils auf Kosten des andern – wertzuschätzen, ist mit den Ergebnissen der Forschung nicht zu vereinbaren. Beide Blumhardt verbinden auf ihre Weise Erwecklichkeit mit gesellschaftlichem Handeln. Der Vater legt den Akzent auf die Individualseelsorge, beschränkt sich aber nicht darauf, sondern wirkt auch als Wirtschaftsförderer und Synodaler. Der Sohn predigt nicht nur gegen ungerechte gesellschaftliche Strukturen. Auch er ist Individualseelsorger; auch bei ihm kommt es zu Gebetsheilungen seelisch und körperlich Leidender.
Erstabdruck in: Württembergergische Biographien unter Einbeziehung Hohenzollerischer Persönlichkeiten. Band I. Im Auftrag der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg herausgegeben von Maria Magdalena Rückert, W. Kohlhammer Verlag Stuttgart 2006. Wiederverwendung mit freundlicher Genehmigung.
Aktualisiert am: 04.06.2024
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