Claß, Helmut

Von: Stegmann, Andreas

Helmut Claß (1913-1998)

Lebensdaten

Eltern: Helmut Claß wurde am 1. Juli 1913 als ältester Sohn von Oberreallehrer Dr. Hermann Claß und Johanne Claß (geb. Goller) in Geislingen / Steige geboren. Das Elternhaus war kirchlich geprägt; vor allem durch seine Mutter lernte Claß früh die Lebenswelt und Traditionen des württembergischen Pietismus kennen.

Ausbildung: Claß besuchte von 1919 bis 1921 die Volksschule in Geislingen-Altenstadt, von 1921 bis 1927 das Reformrealgymnasium in Geislingen und von 1927 bis 1931 das Zeppelingymnasium in Stuttgart. Im Sommersemester 1931 begann Claß das Studium der Evangelischen Theologie an der Theologischen Schule in Bethel; im Sommersemester 1932 wechselte er nach Tübingen; 1933 ging er für das Sommersemester nach Marburg; und vom Wintersemester 1933 bis zum Sommersemester 1935 schloss er in Tübingen sein Studium ab. Seine wichtigsten akademischen Lehrer waren Karl Heim, Rudolf Bultmann und – obwohl Claß nicht bei ihm studierte – Karl Barth. Neben der aktuellen theologischen Diskussion wurden für Claß im Studium auch das Luthertum und den Pietismus wichtig. Er kannte und schätze Martin Luthers Schriften und war vertraut mit den Klassikern des lutherischen und insbesondere württembergischen Pietismus von Spener bis zu den Blumhardts. Der Kirchenkampf 1933/34 war für Claß ein eindrückliches Erlebnis; von Anfang an stand er auf Seiten der Bekennenden Kirche und hielt treu zu Landesbischof Theophil Wurm.

Beruflicher Werdegang: Im Frühjahr 1936 legte Claß die Erste Theologische Dienstprüfung ab, wurde am 8. März 1936 ordiniert und absolvierte anschließend bis 1939 sein Vikariat an St. Bernhard in Esslingen, in der Evangelischen Diakonissenanstalt Schwäbisch Hall, als Pfarrverweser in Tiefenbach (Dekanat Crailsheim) und als Mitarbeiter des Evangelischen Jungmännerbunds im Soldatenheim auf dem Truppenübungsplatz Münsingen. Nachdem er im Frühjahr die Zweite Theologische Dienstprüfung erfolgreich absolviert hatte, wurde er im Juli 1939 auf die dritte Pfarrstelle an der Kilianskirche Heilbronn berufen. Von Oktober1939 bis Dezember 1947 konnte Claß wegen Kriegsdienst – Claß war Offizier der Luftnachrichtentruppe – und sowjetischer Kriegsgefangenschaft seinen pfarramtlichen Dienst nicht ausüben. 1948/49 nahm er seinen Dienst wieder auf und wurde zusätzlich Heilbronner Stadtjugendpfarrer. Von 1950 bis 1958 war Claß württembergischer Landesjugendpfarrer, von 1958 bis 1968 leitender Pfarrer der Evangelischen Diakonieschwesternschaft Herrenberg und 1968/69 Prälat von Stuttgart. 1969 wurde Claß zum württembergischen Landesbischof gewählt. 1971 übernahm zusätzlich den Vorsitz im Diakonischen Rat des Diakonischen Werks und 1973 den Vorsitz des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland. Nach Erreichen des 65. Lebensjahrs schied Claß 1979 aus dem Amt des EKD-Ratsvorsitzenden und des württembergischen Landesbischof. Während seiner Ruhestandsjahre engagierte er sich aber weiterhin für die Kirche, etwa indem er bis 1986 Vorsitzender des Diakonischen Rats blieb und weitere kirchliche Ämter übernahm (z.B. das des ersten Beauftragten des Rats der EKD für den Kontakt zu den evangelischen Kommunitäten). Am 4. November 1998 starb Helmut Claß in Nagold-Pfrondorf; sein Grab befindet sich auf dem Stuttgarter Waldfriedhof.

Familie: Helmut Claß war verheiratet mit Hilde Claß (1914–2001). Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor: Martin (* 1940), Christoph (* 1943), Hanna (* 1950) und Gottfried (* 1954).

Ehrungen: 1972 Ehrendoktor der Theologischen Fakultät der Universität Tübingen; 1979 Großes Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland; 1979 Ehrenritterkreuz des Johanniterordens; 1988 Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg; 1993 Brenzmedaille der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.

Biografische Würdigung

Helmut Claß hat sich in seinem gesamten beruflichen Wirken als Pfarrer verstanden, der durch Verkündigung und Seelsorge die Menschen zum Glauben führen und im Glauben bestärken wollte. Leitend war dabei die paulinische Rede von Wort und Dienst der Versöhnung (2.Kor. 5,18–21): Die Kirche verdanke sich dem heilschaffenden Gotteswort und habe dieses Gotteswort zu bezeugen – und zwar in ihrer religiösen Verkündigung wie in ihrem diakonischen Handeln. Verkündigung und Diakonie - ,Heils- und Weltdienstʻ – hingen für Claß eng zusammen. Zusammengehalten wurden sie durch die evangelische Spiritualität, das heißt durch eine um Bibel, Gottesdienst, Sakramente und Gebet kreisende alltägliche Frömmigkeitspraxis. Die durch die evangelische Spiritualität zu Wort und Dienst der Versöhnung befähigte Kirche war nach Claß zugleich missionarisch und diakonisch – sie war ,missionarisch-diakonische Kircheʻ, wie ein Leitbegriff seiner Bischofsberichte lautet. Dieses kirchliche Programm setzte Claß in den 1950er und 1960er Jahren in der kirchlichen Basisarbeit um, als er als Landesjugendpfarrer die ländliche Jugendarbeit der Kirche neu organisierte und als leitender Pfarrer der Herrenberger Diakonieschwesternschaft die schwesternschaftliche Diakonie modernen Anforderungen anpasste. Auf beiden Arbeitsfelder erwies Claß sich als anziehender Verkündiger und Seelsorger sowie als kompetenter Organisator und Netzwerker. Auch in seiner kirchlichen Leitungstätigkeit als Prälat von Stuttgart, als württembergischer Landesbischof und als EKD-Ratsvorsitzender bemühte sich Claß um die Verwirklichung seines kirchlichen Programms. Er nutzte die Möglichkeiten, in Kirche und Öffentlichkeit für einen zugleich am biblisch-reformatorischen Christentum orientierten und für Herausforderungen der gegenwärtigen Welt evangelischen offenen Glauben zu werben. Das war angesichts der religiösen Krise der 1960er und 1970er Jahre und der die Kirche zerreißenden kirchlichen und gesellschaftlichen Konflikte nicht leicht. Die kirchlichen Organisationsreformen (z.B. die Revision der EKD-Grundordnung), die gesellschaftspolitischen Diskussionen (z.B. um den Schwangerschaftsabbruch, um das politische Engagement kirchlicher Amtsträger oder um das Verhältnis von Kirche und Staat), die ökumenischen Beziehungen (z.B. zum Ökumenischen Rat der Kirchen oder zu Kirchen auf der Südhalbkugel), der Linksextremismus (z.B. das Verhältnis der Kirche zur DKP und zur RAF), die innerkirchliche Pluralisierung (z.B. durch die organisatorische Verfestigung der Bekenntnisbewegung) oder die Kirche und Gesellschaft von unten verändernden ,neuen sozialen Bewegungenʻ (die über Basisinitiativen und Kirchentage den westdeutschen Protestantismus zu beeinflussen begannen) boten viel Konfliktstoff. Claß meisterte diese Herausforderung, weil er sich als Vermittler verstand: In seiner kirchlichen Leitungstätigkeit versuchte er die auseinanderstrebenden Lager innerhalb der Kirche zusammenzuhalten und er bemühte sich um gleichermaßen sachgerechte wie akzeptable Kompromisse.

Eine angemessene Würdigung von Claß‘ Person und Wirken ist zur Zeit nur vorläufig möglich, weil die kirchengeschichtliche Forschung die Geschichte des westdeutschen Protestantismus zwischen 1945 und 1989 und damit auch die kirchlichen Protagonisten dieser Zeit erst allmählich erschließt. Die Zeitgenossen jedenfalls haben Claß hoch geschätzt: Der Journalist Karl-Alfred Odin beispielsweise hat Helmut Claß 1979 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als „Vorbild für den evangelischen Bischof“ bezeichnet und ihm große Verdienst um die Erneuerung des westdeutschen Protestantismus durch die „Rückführung der Gemeinden zu evangelischer Spiritualität“ zugeschrieben (1). Tatsächlich gehört Claß zu einer Gruppe von kirchlichen Leitungsverantwortlichen, zu der auch der Hamburger Bischof Hans-Otto Wölber oder Hannoversche Bischof Eduard Lohse zu zählen sind, die der evangelischen Kirche der Bundesrepublik Wege aus der religiösen Krise der 1960er und 1970er Jahre gewiesen haben.

Aktualisiert am: 06.03.2024