Umfrid, Hermann

Von: Kienzle, Claudius

Inhaltsverzeichnis
  1. Hermann Umfried (1892-1934)
  2. 1: Familienverhältnisse
  3. 2: Biographische Würdigung
  4. Anhang

Hermann Umfried (1892-1934)

1: Familienverhältnisse

V Otto Umfrid (1857-1920), Pfarrer, Publizist, Pazifist, Vizepräsident der Deutschen Friedensgesellschaft. M Julie Karoline, geb. Reischle (1861-1936). G Johanna Mathilde Charlotte; Margarete Paula Ottilie ∞ Prälat Karl Hartenstein; Ruth Else Irene. ∞ Irmgard geb. Silcher. K Vier Töchter.

2: Biographische Würdigung

Hermann Umfried als Mitglied der Studentenverbindung Nicaria

Landeskirchliches Archiv, Bildersammlung, Nr. 4864

Der am 20. Juni 1892 in Stuttgart geborene U. wuchs als ältestes von vier Geschwistern im Pfarrhaus des Vizepräsidenten der Deutschen Friedensgesellschaft, Otto U., auf. Der christlich begründete Pazifismus des Vaters, sein Einsatz für die Lösung der sozialen Frage, seine Arbeit für die Völkerverständigung und sein Kampf gegen Militarismus und Imperialismus, prägten U. stark.

Nach dem Abitur studierte er ab 1910 zunächst zwei Semester Jura an der Universität Tübingen und wechselte dann zur evangelischen Theologie. Er belegte Veranstaltungen bei dem Systematischen Theologen Theodor Haering, dem Kirchengeschichtler Karl Müller und dem Neutestamentler Adolf Schlatter, denen er allesamt kritisch gegenüberstand. Darüber hinaus belegte U. auch weiterhin nichttheologische Veranstaltungen. Er schloss sich der akademischen Verbindung Nicaria an, wo er sich den späteren religiösen Sozialisten und Amtsbruder Gottfried Schenkel zum Mentor auserkor. Im Laufe seines Studiums hatte er verschiedene Verbindungsämter inne. Zum Sommersemester 1914 wechselte er an die Universität Marburg, nicht zuletzt um Wilhelm Heitmüller, einen Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule, und den Kulturprotestanten Martin Rade zu hören.

Trotz seiner pazifistischen und antiimperialistischen Überzeugung meldete er sich bereits wenige Tage nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs aus vaterländischer Gesinnung als Kriegsfreiwilliger. Bald geriet er in englische Gefangenschaft. In den Lagern Frith Hill und Handforth organisierte U. in einer Lagerschule wissenschaftliche, kulturelle und seelsorgerliche Veranstaltungen. Nach einem kurzzeitigen Aufenthalt in einem Repressalienlager in Le Havre wurde er aus gesundheitlichen Gründen im Dezember 1916 in die Schweiz ausgetauscht. In Zürich setzte er sein Studium fort, bis eine Einreise nach Deutschland möglich wurde. Während dieser Zeit studierte er bei dem religiösen Sozialisten Leonhard Ragaz, zu dem er Zeit seines Lebens Kontakt hielt.

Nach der ersten theologischen Dienstprüfung 1918 wurde er in Lorch, dem Wohnort des erblindeten und deswegen pensionierten Vaters, vom dortigen Pfarrer Karl Oelschläger ordiniert. In der revanchistischen Atmosphäre der Nach- und Zwischenkriegszeit waren die früheren pazifistischen Aktivitäten und Polemiken des Vaters ein Karrierehindernis für den Kriegsfreiwilligen Hermann Umfrid. Dass er während seines Vikariats bis zur Übertragung der ersten ständigen Pfarrstelle auf zehn verschiedenen Stellen eingesetzt wurde, entsprach durchaus den damaligen Gepflogenheiten. Auffällig ist hingegen, dass er auch nach seiner zweiten theologischen Dienstprüfung 1920 zwei Jahre lang nur mit Vertretungsdiensten beauftragt wurde und sich in dieser Zeit erfolglos um insgesamt 18 Pfarrstellen bewarb, ehe er zum Pfarrer von Kaisersbach ernannt wurde.

Etwa 1920 trat U. der konfessionellen Jugendreformbewegung „Bund der Köngener“ bei, zu deren führenden Mitglieder er bald zählte. In Vorträgen und Zeitschriftenbeiträgen sensibilisierte er den Bund für Pazifismus, Völkerverständigung sowie ethische und politische Verantwortung. Dabei changierte sein Verhältnis zur Landeskirche zwischen wohlwollender Kritik und distanzierter Treue. Ungeachtet seines Engagements für Toleranz, Freiheit und Menschenwürde vollzog auch U. die Orientierung des Bundes hin zu einer diffusen deutschen Religiosität. So las er die Edda, und seine prosaischen Dichtungen sind geprägt von einer Mischung aus naturmystisch-christlichen und nationalromantischen Motiven. Er nahm im Auftrag des Köngener Bundes an Tagungen der religiösen Sozialisten, dem Weltbund der Jugend sowie internationaler Friedens- und Völkerverständigungsorganisationen teil. Seine Verbundenheit mit der Jugendbewegung zeigte sich auch auf der habituellen Ebene, indem er bei öffentlichen Auftritten bisweilen die jugendbewegte Tracht der Köngener trug. Wenngleich bei U. eine Faszination für das Germanentum einerseits sowie eine thematische Affinität zu den religiösen Sozialisten andererseits erkennbar ist, bestand eine gewisse Nähe zur liberalen Theologie.

Ein Jahr nachdem er seine erste Pfarrstelle in Kaisersbach angetreten hatte, heiratete er 1923 Irmgard Silcher. In Kaisersbach war U. um den Ausgleich zwischen den verschiedenen religiösen Gruppierungen seines Gemeindebezirks bemüht. Zusätzlich übernahm er das Amt des Bezirksjugendpfarrers für den Kirchenbezirk Welzheim. Er entwickelte in seiner landwirtschaftlich geprägten Gemeinde neue kirchliche Angebote für Jugendliche, die trotz seines von Vorgesetzen als akademisch empfundenen Sprachduktus durchaus Anklang fanden. Er beteiligte sich an der aktuellen Debatte um eine zeitgemäße Interpretation der Konfirmation und warnte vor einer allzu dogmatischen Festlegung der Heranwachsenden auf die tradierten Glaubens- und Ritualformen. Durch öffentlich vorgetragene Habitus- und Lebensstilkritik am höheren Beamtentum und Teilen der Pfarrerschaft erregte er erhebliches Aufsehen. Obwohl ihm der Welzheimer Dekan riet, mehr Zurückhaltung walten zu lassen, schränkte U. seine kritischen Äußerungen nicht wesentlich ein.

Nach seinem Wechsel auf die Pfarrstelle im hohenlohisch-fränkischen Niederstetten achtete er auf ein gutes Verhältnis zu seinem katholischen Kollegen und zur dortigen jüdischen Gemeinde. Gleichwohl tauchten in seinen Predigten und öffentlichen Äußerungen antisemitische Stereotypen und Motive des christlichen Antijudaismus auf. Neben einer intensiven seelsorgerlichen Besuchstätigkeit bildete die Arbeit mit Jugendlichen einen weiteren Schwerpunkt seines Wirkens. Hier war seine Herkunft aus der Jugendbewegung deutlich erkennbar. Im freiheitlichen Geist des Bundes der Köngener gab er ungewöhnlicherweise in Schule und Konfirmandenstunde eine Art Sexualkundeunterricht. Tanznachmittage im Pfarrgarten konfligierten ebenfalls mit den zeittypischen kirchlichen Verhaltensnormen. Ungewöhnlich war ferner seine aktive Mitgliedschaft im Turnverein. Sein vielfältiges Engagement in der Gemeinde und im Bund der Köngener führten immer wieder zu psychischen Erschöpfungszuständen, die längere Erholungsphasen nötig machten.

Dem Nationalsozialismus begegnete U. aufgeschlossen. In speziellen Gemeindeveranstaltungen zeigte er seinen Gemeindemitgliedern Wege, mit nationalsozialistischen Ritualen und Ansprüchen positiv umzugehen. Dessen ungeachtet verweigerte er am „Tag von Potsdam“ das von Staat und Partei gewünschte Glockengeläut, weil ihn eine entsprechende Anweisung der Kirchenleitung nicht rechtzeitig erreicht hatte. Schließlich wurde das Geläut mit Billigung durch U. von örtlichen Parteivertretern durchgesetzt. Als wenige Tage später, am 25. März 1933, einem Sabbat, Niederstetter Juden durch auswärtige SA-Männer brutal misshandelt wurden, übermittelte er den Betroffenen umgehend seine Solidarität, protestierte in seiner Predigt am folgenden Sonntag scharf gegen das von der SA als „Polizeiaktion“ charakterisierte Pogrom und kritisierte es als Akt der Rechtlosigkeit und Willkür.

Die an sich der nationalen Begeisterung gewogene und die nationalsozialistische Machtübernahme würdigende Predigt erregte wegen ihrer eindeutigen Verurteilung der Ereignisse vom Vortag den Unwillen der örtlichen Parteieliten. Diese informierten die Gauleitung in Stuttgart, nachdem U. sich geweigert hatte, seine Predigtworte zu widerrufen und ein lokaler Schlichtungsversuch im Kirchengemeinderat, der ihn zunächst stützte, gescheitert war. U. versuchte seinerseits sich – unter Bezug auf ähnliche Stellungnahmen der Geistlichen im benachbarten Öhringen – des Rückhalts seines vorgesetzten Dekans, Otto Hohenstatt, zu versichern. Dieser legitimierte die Verweigerung des Glockengeläuts und gestand U. im Hinblick auf seine Predigt Handlungsfreiheit zu, folgte ihm aber inhaltlich nicht.

U. Eintreten für Rechtsstaatlichkeit, für das Gewaltmonopol des Staates und gegen individuelle Willkür war theologisch motiviert. Es war nach lutherischem Verständnis Sache der Obrigkeit, entsprechend des geltenden Rechtsbewusstseins zu handeln. Gegen dieses Rechtsbewusstsein war von den staatlich nicht legitimierten Schlägern eklatant verstoßen worden. Dass Oberkirchenrat und Dekan nach Prüfung seiner Predigt den theologischen Argumenten weder folgten noch diese anerkannten, sondern statt dessen die Predigt insgesamt – entlang der wohlwollenden Linie der Kirchenleitung gegenüber dem Nationalsozialismus – als zu politisch tadelten, stellte U. vor seinen Kritikern bloß. Hatte bereits sein Vater 36 Jahre zuvor wegen seines theologisch begründeten Pazifismus einen politisch motivierten, offiziellen Verweis der Oberkirchenbehörde erhalten, so verbitterte ihn die jetzige Zurechtweisung der Kirchenleitung. U. begegnete ihr mit Unverständnis und seine Position verlagerte sich ins Grundsätzliche. Vergeblich versuchte er seine Vorgesetzen bis hin zum Kirchenpräsidenten Theophil Wurm mit konkreten Vorschlägen, die er zusammen mit Kollegen des Köngener Bundes ausgearbeitet hatte, zu öffentlichen Stellungnahmen zu bewegen. Die Eingabe an Wurm wurde von der Kirchenbehörde ignoriert. Die äußerliche Situation in Niederstetten schien nach dem Eindruck, den der Dekan bei der folgenden Visitation aufnahm, bald befriedet gewesen zu sein. Innerlich eskalierte Umfrids psychische Labilität in depressive Zustände. Von der Passivität der Kirchenleitung enttäuscht und einer Reihe von Verhören, Drohungen und körperlichen Angriffen erschöpft, fügte er sich im am 21. Januar 1934 tödliche Verletzungen zu.

Ehemalige Mitglieder der jüdischen Gemeinde Niederstetten legten 1979 im Wald der Märtyrer in Yad Vashem einen „Umfrid-Gedenk-Garten“ an. Damit sollte an die „hohen Ideale dieses Kämpfers für Menschenrechte und Menschenwürde“ erinnert werden.

Erstabdruck in: Württembergische Biographien unter Einbeziehung Hohenzollerischer Persönlichkeiten. Band II. Im Auftrag der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg herausgegeben von Maria Magdalena Rückert, W. Kohlhammer Verlag Stuttgart 2011. Wiederverwendung mit freundlicher Genehmigung.

Aktualisiert am: 06.03.2024